Der jüngste Streich erfolgte vergangene Woche in Nordrhein-Westfalen. Seit Montagfrüh, 5.30 Uhr, liefere das Steinkohlekraftwerk Heyden in Petershagen an der niedersächsischen Grenze wieder regulär Strom ins Netz, gab der deutsche Energiekonzern Uniper bekannt. Erst im Vorjahr war die 875 Megawatt starke Anlage aus dem Regelbetrieb genommen worden und sollte fortan nur noch als Netzreserve zum Ausgleich von Erzeugungsschwankungen dienen. Jetzt ist alles anders, die Kohlekraft kehrt zurück – und das nicht nur in Deutschland.
Während Österreichs Politik um die rechtliche Grundlage für die anvisierte Wiederinbetriebnahme des im Jahr 2020 stillgelegten Kohlekraftwerks Mellach ringt (siehe Infobox am Artikelende), lassen etwa die Niederlande ihre einst aus Klimaschutzgründen zurückgefahrenen Kohlemeiler bereits wieder mit voller Kraft Strom erzeugen – vorerst bis Ende 2023. Frankreich wirft für den Winter einen vor knapp zwei Jahren abgeschalteten 595-Megawatt-Kohleblock wieder an, in Deutschland sollen neben der Anlage in Petershagen neun weitere Steinkohlemeiler mit insgesamt acht Gigawatt Leistung wieder regulär (und vorerst befristet) ans Netz gehen. Und: Auch in China dürfte in diesen Wochen mehr Kohle verfeuert werden denn je.
Die Internationale Energieagentur IEA erwartet, dass heuer weltweit rund acht Milliarden Tonnen Kohle verbrannt werden – der höchste Wert seit zehn Jahren. Das nächste Jahr soll dann sogar ein historisches Allzeithoch bringen.
Trockenheit und Dürre als Triebfedern
Verantwortlich für diese klimapolitisch kontraproduktive Entwicklung ist eine Mixtur an Umständen, allen voran die Verwerfungen auf den Energiemärkten im Gefolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Hinzu kommen ausgerechnet die Folgen des Klimawandels, die derzeit das treibhausgasintensive Verfeuern von Kohle antreiben. So haben die außergewöhnliche Hitze und Trockenheit in Frankreich die Flusspegel auf Tiefststände sinken lassen. In der Folge können etliche Atomkraftwerke nicht ausreichend gekühlt werden und mussten zurückgefahren werden. Weil zusätzlich mehrere Meiler Reparaturen benötigen, ist die Grande Nation erstmals zum Nettoimporteur von Strom geworden. Weniger als die Hälfte der insgesamt 56 AKW war Ende August noch in Betrieb, nicht zuletzt die wiederaktivierten deutschen Kohlekraftwerke sollen im kommenden Winter als Ersatz einspringen.
Noch drastischer ist die Lage in China. Teile des Landes leiden unter der größten Dürre seit sechs Jahrzehnten. Betroffen ist unter anderem Sichuan, die Provinz mit den stärksten Wasserkraftwerken, die nun auf dem Trockenen sitzen. Aus Strommangel müssen Unternehmen seit Wochen Produktionen drosseln, China lässt seine Kohlekraftwerke auf Hochtouren laufen. Wie Staatsmedien berichten, produzieren in Sichuan die 67 lokalen Kohlemeiler derzeit um die Hälfte mehr Strom als vorgesehen.
Bleibt deutscher Kohle-Ausstieg in Reichweite?
Die gesteigerte Nachfrage treibt den durch die Russland-Sanktionen ohnehin enormen Kohlepreis noch weiter in die Höhe. Was aber langfristig noch schwerer wiegen könnte: Kohlekraftwerke stoßen pro Kilowattstunde erzeugten Stroms im Schnitt etwa doppelt so viel CO2 aus wie Gaskraftwerke, was sich auf Dauer schwer auf die Klimabilanzen der betroffenen Staaten schlägt. „Bis vor Kurzem hätte ich das alles noch für eine ganz kurzfristige Entwicklung gehalten, mittlerweile denke ich aber, dass uns das noch länger begleiten könnte“, sagt Stefan Lechtenböhmer vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Das vorgezogene Aus für alle deutschen Kohlekraftwerke im Jahr 2030 sieht der Experte trotz aller Diskussionen dennoch in Reichweite. „Das bleibt machbar, schon allein deshalb, weil sich der preisliche Druck auf die fossilen Energieträger noch verstärken wird.“
Vorerst allerdings ist mit globalen Mehremissionen zu rechnen. Tatsächlich entspricht das auch unabhängig von den jüngsten Verwerfungen durchaus dem Trend. Denn nach wie vor werden in Asien jährlich mehr neue Kohlekraftwerke gebaut als anderswo stillgelegt werden (siehe Grafik unten). Das Verbrennen von Kohle ist heute für rund 40 Prozent aller energiebedingten CO2-Emissionen verantwortlich und somit größter einzelner Treiber des Klimawandels.
Doch gerade aus China gibt es mittlerweile auch positive Signale. So sind die gesamten CO2-Emissionen im Reich der Mitte erstmals seit Jahrzehnten an vier aufeinanderfolgenden Quartalen unter das Niveau des Vorjahreswerts gefallen.
Politik als kritischer Faktor
Entsprechend sehen Experten wie Stefan Lechtenböhmer die Klimaziele Europas und Chinas trotz des momentanen Drangs zur Kohle nicht abgeschrieben. „Man darf nicht vergessen, dass Energiegewinnung und Industrie in Europa und auch in China einem Emissionsrechtehandel unterliegen. Die Gesamtzahl der Emissionsrechte wird jedes Jahr um einen gewissen Anteil kleiner. Wenn in einem Teilbereich mehr Treibhausgase verursacht werden, müssen in einem anderen mehr eingespart werden.“ Nach den Gesetzen der Mathematik müssen die Ausstöße somit in Summe sinken, sagt Lechtenböhmer. Vorausgesetzt freilich, die Politik hält dem Druck stand und bleibt mit dem Emissionshandelssystem auf Kurs.