Das zeitliche Zusammentreffen könnte widersprüchlicher nicht sein. Während Deutschland mit dem Jahreswechsel drei seiner letzten sechs Atomkraftwerke vom Netz genommen hat und den noch verbliebenen heuer den Stecker ziehen wird, will die EU-Kommission auf Druck Frankreichsdie Kernkraft per Nachhaltigkeitssiegel zur Zukunftstechnologie erklären. Kritiker rotieren, doch könnte Europa tatsächlich auch ohne Atomkraftwerke auskommen?
Auf absehbare Zeit jedenfalls nicht. Rund 100 Atommeiler laufen in 13 der 27 EU-Staaten, die zusammen etwa ein Viertel des Strombedarfs der Union abdecken. Doch die Anlagen sind ungleich verteilt. Mehr als die Hälfte steht allein in Frankreich, gefolgt von Spanien und Belgien mit jeweils sieben Kraftwerken. Frankreich ist somit der einzige EU-Staat, für den es auch mittelfristig mangels ausgebauter Alternativen keine Perspektive ganz ohne Atomstrom gibt.
Kommentar
Neue Meiler als Kostengräber
Doch die eigentliche Frage lautet: Braucht Europa tatsächlich zusätzliche Kernkraftwerke, um bis 2050 klimaneutral zu werden? Eine zumindest zweifelhafte Annahme. Denn abseits der Sicherheitsfrage und der ungelösten Endlagerproblematik für radioaktiven Abfall sind es vor allem die exorbitanten Kosten, die neue AKW im Vergleich zu anderen Technologien unrentabel machen. Ohne milliardenschwere Zuschüsse geht kein Reaktor in Bau, und dort, wo die Mittel bereitgestellt werden, explodieren Bauzeiten und Budgets.
So wird in Frankreich seit 2007 am neuen Reaktorblock 3 des AKW Flamanville gewerkt, der schon 2012 hätte fertiggestellt sein sollen. Die Kosten haben sich von ursprünglich vier Milliarden Euro fast verfünffacht, vor 2023 ist mit keiner Finalisierung zu rechnen. In Finnland verteuerte sich der seit 16 Jahren in Konstruktion befindliche AKW-Block Olkiluoto 3 von drei auf neun Milliarden Euro, woraufhin der Bau eines vierten Blocks abgesagt wurde. Das Ex-EU-Mitglied Großbritannien wiederum musste den Betreibern des künftigen AKW Hinkley Point C nach massiven Kostenüberschreitungen aus Steuergeldern einen Stromabnahmepreis in doppelter Markthöhe über 35 Jahre garantieren.
Längere Laufzeit als Notlösung
Unter diesen Bedingungen schrecken die meisten Staaten seit Jahren vor neuen Atomkraftwerken zurück und setzen stattdessen auf Laufzeitverlängerungen der bestehenden Anlagen. Doch das geht nicht ewig. Frankreichs jüngstes AKW ist seit 22 Jahren am Netz, das älteste seit mehr als 40. So wird ersichtlich, warum die meisten AKW-Betreiberstaaten um neue Finanzierungsströme für moderne Anlagen ringen. Anstatt die aus Altersschwäche aus dem Betrieb kippenden Meiler schrittweise durch echte grüne Kraftwerke zu ersetzen, halten sie an der vorhandenen Technologie fest. Die Rechnung dafür könnte hoch ausfallen.