"Fit for 55" - Was ein bisschen klingt wie ein Gymnastikprogramm für Frühpensionisten, ist in Wahrheit ein umweltpolitisches Paket von bisher nicht dagewesener Tragweite. Die EU-Kommission präsentiert am heutigen Mittwoch jenen Plan, der gewährleisten soll, dass die Union das verschärfte Klimaziel erreicht, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent unter das Niveau von 1990 zu drücken. Auf der Agenda steht ein Kraftakt, der Auswirkungen auf die meisten Lebens- und Wirtschaftsbereiche haben dürfte.
Worum geht es im Kern? Auf Basis der 2015 in Paris verabschiedeten Klimaziele, wonach die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius begrenzt bleiben soll, hat sich die EU auf einen "Green Deal" geeinigt, der beinhaltet, dass der Kontinent bis 2050 klimaneutral werden soll. Die Unionsstaaten sollen zur Jahrhundertmitte also nur noch so viel Treibhausgas ausstoßen, wie durch die Biosphäre wieder aufgenommen werden kann. Realistischerweise erreichbar wird dieses Ziel allerdings nur, wenn auch die für das Jahr 2030 fixierten Zwischenziele nachgeschärft werden. Diese hatten ursprünglich vorgesehen, die europäischen Emissionen um 40 Prozent unter den Wert von 1990 zu bringen. Im heurigen Frühjahr haben EU-Kommission, EU-Parlament und Staaten die Erhöhung auf minus 55 Prozent fixiert. Bislang (Stand: 2018) hält die EU im Vergleich mit dem Jahr 1990 bei einer Reduktion von rund 21 Prozent, muss binnen eines Jahrzehnts noch um weitere 29 Prozentpunkte nachlegen. Das nun anstehende Paket soll vorzeichnen, wie diese Herkulesaufgabe nach den Vorstellungen der Kommission gelingen soll.
Einzelheiten über die Inhalte des "Fit for 55"-Programms sind bislang nur sporadisch durchgesickert, klar ist anhand der Diskussionen im Vorfeld aber, dass das Paket an einigen bisherigen Tabus rütteln wird. Die gesamte Energie-, Mobilitäts- und Steuergesetzgebung der Union soll auf die neuen Ziele ausgerichtet werden, zwölf Einzelgesetze stehen auf der Agenda. Ein zähes Ringen zwischen Kommission, Parlament und Staaten ist damit für die folgenden Monate garantiert.
Verbrennern geht es an den Kragen
Intensiv diskutiert wird seit Monaten die Frage, wie künftig mit Neuzulassungen von Autos mit Verbrennungsmotoren umgegangen werden soll. EU-Klimakommissar Frans Timmermans wird dem Vernehmen nach kein Verbot vorschlagen, doch die stattdessen geplante Regelung käme einem solchen früher oder später gleich. So soll die derzeit gültige Auflage, wonach die Pkw-Emissionen im Durchschnitt der europäischen Neuwagenflotte maximal 95 Gramm CO2 pro Kilometer betragen dürfen, bis 2030 um 50 bis 60 Prozent verschärft werden. Bisher vereinbart war bis 2030 nur eine Verschärfung um 37,5 Prozent. Ab 2035 könnten es sogar 100 Prozent sein, was ein Aus für konventionelle Neuwagen bedeuten würde. Österreichs Autozulieferer kritisieren die geplante Regelung, die Rahmenbedingungen schaffe, die keiner wolle, so der Vorsitzende der Arge Automotive Zulieferindustrie Dietmar Schäfer.
Am anderen Ende der europäischen Pkw-Flotte, bei den Elektroautos, will die Kommission ebenfalls handeln. Bereits bekannt ist das Ziel, wonach bis 2025 entlang der wichtigsten europäischen Schnellstraßen mindestens alle 60 Kilometer eine leistungsstarke Ladestation stehen soll.
Heizen mit Öl soll teurer werden
In Diskussion ist zudem, das Emissionshandelssystem, dem bisher vornehmlich die europäische Industrie unterworfen ist (siehe Kapitel Industrie weiter unten), auch auf fossile Kraft- und Brennstoffe auszudehnen. Heizen und Autofahren auf Erdölbasis bekäme dann je ausgestoßener Menge CO2 einen Preis, der über die reinen Energiekosten hinausgeht, sprich: Sprit und Heizöl würden sich verteuern. Deutschland beschreitet mit einer eigenen CO2-Steuer auf Kraft- und Brennstoffe seit heuer bereits einen ähnlichen Weg. Der Preis beim Nachbarn liegt pro Tonne CO2 derzeit bei 25 Euro und soll bis 2025 auf 55 Euro ansteigen. Das Ziel solcher Maßnahmen: Wärmedämmung und sparsamere Autos sollen attraktiver werden. Das Problem dabei: Ärmere Bevölkerungsgruppen werden besonders hart getroffen, wenn es keinen sozialen Ausgleich gibt.
Sozialfonds soll Härten abfedern
Ein solcher Sozialausgleich für teurere fossile Brennstoffe ist im EU-Klimaprogramm schon aus dem Grund vorgesehen, um Unruhen wie einst bei der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich zu vermeiden. Die Hälfte der Einnahmen aus dem Emissionshandel für Verkehr und Gebäude soll demnach in einen Sozialfonds fließen, über den die Staaten die Gelder an ärmere Gruppen rückverteilen sollen. Die Zusatzkosten für Pendler etwa würden auf diese Weise abgefedert.
Kerosin soll nicht mehr steuerfrei sein
Auch das Reisen per Flugzeug dürfte sich in den kommenden Jahren verteuern. Anders als andere Kraftstoffe wie Benzin und Diesel ist das Flugzeug-Kerosin in Europa nämlich steuerfrei, während auch die Bahn Umweltabgaben leisten muss. Die EU will diese Ungleichbehandlung abstellen und ab 2023 einen schrittweise steigenden Mindeststeuersatz für Kerosin vorschlagen. Die Luftfahrt soll so näher in Richtung Kostenwahrheit gebracht werden. Betroffen wären Flüge innerhalb Europas. Europäische Airlines kritisieren den Plan und orten eine Benachteiligung gegenüber internationalen Mitbewerbern.
Ebenfalls in Diskussion: Eine fixe Beimischungsquote von (bislang deutlich teurerem) Biokerosin und eine Nachjustierung bei den bislang großzügigen Gratiszuteilungen von Emissionsrechten für Airlines.
Industrie bekommt schärfere Vorgaben
Auch auf Industrien wie Chemie, Stahl und Zement kommen schärfere Vorgaben zu. Seit 2005 ist der größte Teil dieses Sektors gemeinsam mit den Energieerzeugern dem europäischen Emissionsrechtehandel unterworfen. Die Unternehmen müssen für jede Tonne ausgestoßenes Treibhausgas Zertifikate ersteigern. Wer klimafreundlicher produziert, spart Geld und kann überschüssige Zertifikate an weniger innovative Unternehmen verkaufen, die tiefer in die Tasche greifen müssen. Jährlich wird die Gesamtmenge der Zertifikate am Markt gekürzt. Diese Kürzung könnte beschleunigt werden, um die Unternehmen zu mehr Investitionen in den Klimaschutz zu animieren. Der dadurch steigende CO2-Preis sorgt etwa in der in globaler Konkurrenz stehenden Stahlbranche für Kritik, die bisher deshalb einen guten Teil der Zertifikate gratis bekommen hat.
Um zu verhindern, dass die europäische Industrie durch den höheren CO2-Preis nicht mehr wettbewerbsfähig ist, setzt die EU-Kommission auf eine CO2-Grenzabgabe, die Importeure von außereuropäischem Stahl zahlen müssten. Die Höhe des Zolls orientiert sich daran, wie CO2-intensiv das Produkt hergestellt wurde. Zumindest in der Theorie wäre der Stahl aus Ländern ohne CO2-Abgabe dem europäischen damit preislich gleichgestellt. Staaten wie die USA und Russland haben bereits angekündigt, eine solche Regelung nicht akzeptieren zu wollen.
Wo steht Österreich?
Während die EU als Gesamtheit die Treibhausgasemissionen seit 1990um mehr als ein Fünftel gesenkt hat, hält Österreich nach wie vor leicht oberhalb des Niveaus von vor 30 Jahren. Bei den Emissionen pro Kopf liegt Österreich derzeit im hinteren europäischen Mittelfeld - noch vor Deutschland, aber hinter Staaten wie Schweden oder Dänemark. Wie das neue EU-Emissionsziel von minus 55 Prozent bis 2030 auf Österreichs Klimaziele durchschlägt, ist noch nicht fixiert. Erwartet wird, dass die Republik die eigenen Klimaziele von derzeit minus 36 Prozent (allerdings im Vergleich zum Basisjahr 2005) auf rund minus 50 Prozent wird hochschrauben müssen.
Grafiken: Jonas Pregartner