Der Winter kommt früh nach Norwegen. Es war am Mittwoch kurz nach 18 Uhr und schon fast ganz dunkel, als ein vom Christentum zum Islam konvertierter 37-jähriger Däne, in einem Coop-Supermarkt in der Kleinstadt Kongsberg ausrastete. Ein dienstfreier Polizist versuchte noch, sich ihm im Geschäft in den Weg zu stellen – unterlag dabei aber verletzt, laut den ersten Berichten von Augenzeugen und der Polizei, die in Norwegen normalerweise nicht bewaffnet ist.
Dabei sind seit dem Breivik-Attentat auf der Insel Utöya 2011 die Waffen meistens nicht weit weg. Oft nicht weiter als im hinteren Laderaum des Polizeiautos. Dennoch hatte der 37-Jährige über eine halbe Stunde Zeit zum Morden. Auch beim Breivik-Massaker dauerte es ungefähr eine Stunde vom ersten Notruf bis zur Festnahme. Eine erste bewaffnete Streife mit mehreren Beamten habe damals angeblich einfach Angst gehabt, alleine auf die Insel zu fahren. Das kostete damals Dutzende Jugendliche das Leben.
Auch am Mittwochabend hatte der 37-jährige zu viel Zeit. Vier Frauen und einen Mann durchbohrte er mit seinen Pfeilen. Wie im dystopischen Film „Tribute von Panem“. Dass sie an diesem gewöhnlichen Herbstnachmitttag in einer norwegischen Stadt so sterben würden, konnten sie nicht ahnen. Denn Kongsberg mit seinen 28.000 Einwohnern ist eine nordisch aufgeräumte Stadt.
Neben Pfeil und Bogen soll der Däne auch andere Waffen genutzt haben, so die Polizei am Donnerstag. Die Taten seien so grauenvoll durchgeführt worden, dass die Sicherheitsbehörde Privatpersonen ermahnte, möglicherweise eingespielte Smartphone-Filme bloß nicht in das Internet zu stellen.
Viel zu lang dauerte es, bis die Polizei ihn ausschalten konnte, sagen die Kritiker. Nach der ersten Begegnung am Supermarkt ließ man den Amokläufer entkommen, angeblich mordete er dann erst so richtig drauf los. Der Islamist habe zu viel Zeit zum Töten gehabt, wird die Polizei kritisiert. Tatsächlich soll er trotz zahlreicher, bewaffneter Beamten aus dem Supermarkt entkommen sein. Mitten im Stadtzentrum. Das besagten zumindest erste Meldungen.
Letztlich habe er sich ohne Gegenwehr ergeben und mit der Polizei kooperiert, berichteten die Behörden. Er soll angeblich Dankbarkeit für seine Festnahme ausgedrückt haben, schrieb die norwegische Tageszeitung Verdens Gang (VG).
Der Polizei war der Attentäter dem Vernehmen bekannt. In den vergangenen Jahren habe sich der Mann immer weiter radikalisiert, heiß es vonseiten der Ermittler. Seine Familie hatte er bereits mehrmals bedroht. Warum blieb unklar. Einmal soll er sogar mit einer Schusswaffe gedroht haben. Ein Gericht erließ daraufhin ein Annäherungsverbot, das der Däne aber wiederholt missachtet haben soll. Seit 2020 soll er bis zum albtraumhaften Mittwochabend allerdings nicht weiter auffällig gewesen sein. Seit rund einem Jahrzehnt ist der Bogenschütze erwerbslos und laut Behörden in „regelmäßigen Kontakt mit dem Gesundheitswesen“. Also hatte der Mann offenbar medizinische oder psychische Probleme.
Das wegen üppiger Erdölvorkommen und Umverteilung sehr reiche Norwegen ist ein friedliches Land. Gefängnisse seien Erholungszentren, poltern die dortigen Rechtspopulisten gerne. Tatsächlich gibt es neben Tonstudios, um Musik einzuspielen einiges mehr an Abwechslung als in Gefängnissen anderen Ländern. Auch die Polizei ist vielleicht nicht so vorbereitet auf Ernstfälle wie in schwierigeren Weltgegenden.
Es ist ein weiches Land. Normalerweise. Doch das Idyll ist brüchig. Erst war da der Massenmord durch den Moslemhasser Anders Breivik 2011 auf Utöya, 2019 folgte der Anschlag eines Gleichgesinnten auf eine Moschee. Die Gemeindemitglieder stürzen sich damals auf den Eindringling. Niemand starb. Und jetzt versetzt ein mit Pfeil und Bogen ausgeführter Amoklauf eines möglicherweise psychisch kranken Islamisten das Land in Angst und Schrecken. „Es ist unwirklich, dass wir so etwas erleben müssen“, sagte die Bürgermeisterin von Kongsberg, Kari Anne Sand dem Rundfunk. „Eine Tragödie, die tiefe Spuren hinterlässt.“
Nach bisherigen Informationen soll der Mann allein gehandelt haben. Staatsanwältin Ann Irén Svane Mathiassen bestätigt dem Sender NRK, dass der Verhaftete von psychiatrischen Experten untersucht wird. Das sei in so schweren Fällen nicht ungewöhnlich, sagt Mathiassen. Der Geheimdienst PST geht von einem Terrorakt aus.
Auch die Premiere eines neuen Films wird nun wegen der jüngsten Morde in Kongsberg verschoben. Es handelt sich dabei um „Vildmænd“ – einen Streifen, in dem einer der Charaktere mit Pfeil und Bogen in Norwegen herumläuft.