Wie beurteilen Sie die Grundzüge des Gesetzes für die Impfpflicht?
CHRISTOPH BEZEMEK: Es ist ersichtlich, dass man sich besonders in der zentralen Frage der Grundrechtsabwägung Mühe gemacht hat, das sorgsam und verhältnismäßig auszugestalten – insbesondere an den vorgesehenen Ausnahmebestimmungen und am sehr zurückhaltenden Vorgehen etwa was den Entfall von Ersatzfreiheitsstrafen anbelangt.
Wenn man als Autofahrer seine Verwaltungsstrafe wegen zu schnellen Fahrens nicht bezahlt, muss man eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Ein Gesetz, welches dieses letzte Mittel auslässt, bleibt das nicht zahnlos? Wer sich nicht impfen lässt, bestraft wird, aber nichts hat, was dann exekutierbar ist, bleibt daher von Konsequenzen verschont. Ist das nicht eine ungleiche Behandlung?
Man kann es auch umgekehrt sehen. Das mit der Strafe ausgesprochene Unwerturteil bleibt ja aufrecht. Man will offenbar vermeiden, dass gerade auf dem Rücken der sozial Schwächsten besonders drastische Sanktionen ausgetragen werden.
Könnte man Sozialleistungen und Impfpflicht kombinieren?
Sozialleistungen, die der Wohlfahrtsstaat ausschüttet, verfolgen dem Grunde nach eine andere Zielsetzung. Natürlich kann man indirekte Lenkungswirkungen erzielen, indem man beginnt, an dieser Schraube zu drehen, aber gleichzeitig muss man auch festhalten, dass damit dem primären Zweck von Sozialleistungen nicht entsprochen wird. Der Gesetzgeber ist daher gut beraten, nur an Verwaltungsstrafen ohne Freiheitsentzug zu denken.
Mittlerweile kommen Bedenken, die neue Mutation Omikron könnte die Impfpflicht noch vor Beschluss aushebeln. Denn wenn die Impfungen nicht mehr entsprechend wirken, stimme die Verhältnismäßigkeit zwischen der Einschränkung von Rechten und dem notwendigen Schutz der Bevölkerung nicht mehr.
Diese Verhältnismäßigkeit ist immer unter dem Damoklesschwert des evidenzbasierten Vorgehens angesiedelt und dementsprechend auf eine kontinuierliche Evaluierung angewiesen, ob die verfügte Maßnahme, gemessen an verfolgten Zielsetzungen, insgesamt effektiv ist. Mit dem Fehlen der Effektivität fällt die Verhältnismäßigkeit.
Bestätigt sich also, dass Omikron die Impfungen austrickst, wäre die Impfpflicht dann damit auch hinfällig?
Wenn das naturwissenschaftliche Erkenntnisfundament wegfällt, auf dem die derzeitige rechtliche Überlegung basiert, dann sind die rechtlichen Schlussfolgerungen so nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Dann wird das Gesetz automatisch wirkungslos? Lebt es, wird der Impfstoff gegen die neue Mutation adaptiert, wieder auf?
Fachterminologie spricht man von der sogenannten Invalidierung beziehungsweise Konvalidierung. Das heißt, ein Gesetz kann über den Zeitverlauf und die Änderung der faktischen Rahmenbedingungen verfassungswidrig werden, es kann dann aber wieder durch weitere Änderungen verfassungskonform und gültig sein.
Sehen Sie in dem Entwurf einen strittigen Punkt?
Was Juristen diskutieren, ist die Abstimmung der zwei vorgesehenen Verfahren – einmal das ordentliche, mit einer Strafe von 3600 Euro und das vereinfachte mit bis zu 600 Euro Strafe. Es erschließt sich aus dem Entwurf nicht, wann welches greift. Das wäre noch nachzubessern. Es kann nicht dem Belieben der Verwaltungsbehörde anheimgestellt werden.
Nun kommen auch Einwendungen von Zivilrechtsexperten, zur Impfpflicht für die Arbeit, zur Haftung, wenn ein Infizierter am Arbeitsplatz die Kollegenschaft oder Kunden ansteckt etc. Oder strafrechtlich Konsequenzen deshalb. Was meinen Sie dazu?
Ich spreche als Verfassungsrechtler, aber es werden sich hier vielfach die Fragen im Rahmen von Kausalität und Adäquanz bewegen. Also auch, inwiefern dann eine Infizierung tatsächlich einer Person zurechenbar ist. Aus verfassungsrechtlicher Sicht hat der Gesetzgeber insgesamt Verpflichtungen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung wahrzunehmen. Mit einer allgemeinen Impfpflicht tut er das auf eine sehr intensive Weise.
Abschließend: In der Geschichte finden sich Abschnitte, mit tiefen rechtlichen Einschnitten, welche die Gesellschaft prägten. Erleben wir so eine prägende Kerbe?
Wir erleben eine Zäsur. Auch wenn formal in Österreich kein Notstand verhängt wurde, in der Art und Weise, wie in dieser Zeit Rechtsetzung funktioniert, wie zentralisiert die Steuerung des menschlichen Zusammenlebens auch durch monokratische Akte eines Organs, eines Ministers, im Wesentlichen funktioniert, das hat eine Qualität erreicht, die so noch nie da war. Die kann nur durch die Erfordernisse der faktischen Rahmenbedingungen gerechtfertigt werden. Insgesamt nimmt das einen besonderen Platz in der Rechtsgeschichte ein, weil wir uns von der Normalität eines demokratischen Prozesses doch anderes erwarten, als ein Agieren aus der schieren Notwendigkeit.