In Frankreich genügt manchmal ein Machtwort des Präsidenten, um das Ruder umzuschlagen. Monatelang kämpfte die Regierung mit stagnierenden Impfzahlen, bis die Delta-Welle anrollte und Emmanuel Macron Mitte Juli die Notbremse zog. Seit Frankreichs Staatschef am Abend des 12. Juli in einer Fernsehansprache starke Einschränkungen für Ungeimpfte angekündigt hat, haben 11,5 Franzosen eine erste Impfdosis erhalten. Innerhalb weniger Wochen ist aus einem der müden Schlusslichter der EU eine Vorzeigenation geworden. 76 Prozent der volljährigen Franzosen sind vollständig geimpft, 85 Prozent haben zumindest eine Dosis erhalten.  

Am Mittwoch haben die nachweislich impfskeptischen Franzosen sogar die Briten überholt. Mit 47.947.092 Erstgeimpften verpasst Frankreich vermutlich nur ganz knapp das selbstgesetzte Ziel von 50 Millionen am Ende des Monats. Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien sind damit abgehängt. Nur die Portugiesen und Spanier liegen weiterhin deutlich vor den Franzosen.

De-facto-Impfpflicht

Gelungen ist das französische Impfwunder durch die Einführung des pass sanitaire, eines Gesundheitspasses, mit dem die Regierung eine De-facto-Impfpflicht durch die Hintertür durchgesetzt hat: Wer nicht voll geimpft, genesen oder frisch getestet ist, kann nicht mehr in Restaurants, nicht in Kinos, nicht in große Shoppingzentren gehen. Wer mit Fernbussen oder Intercity-Zügen unterwegs ist, braucht ebenfalls einen Gesundheitspass. Auch von großen Kultur- und  Sportveranstaltungen sind Impfskeptiker ausgeschlossen. Gleichzeitig mit dieser strengen Regel wurde angekündigt, dass PCR-Tests ab Herbst nicht mehr kostenfrei sind, um „Bequemlichkeitstests“ zu vermeiden und die Bürger zum Impfen zu animieren.  

Pflegepersonal

Für das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altenheimen wurde bereits in diesem Sommer eine Impfpflicht eingeführt. Nun trifft es auch die Privatwirtschaft. Ab Montag kommender Woche müssen alle Mitarbeiter, die im direkten Kontakt mit Kunden sind, ebenfalls einen Pass haben. Auch die Kontrolleure, die schnell angeheuert wurden, um vor Schwimmbädern, Opernhäuser, Einkaufsmalls den Pass zu kontrollieren, müssen dann selbst einen gültigen pass sanitaire vorweisen. 

Macron ist es durch diese Strategie ohne Ausgangsbeschränkungen gelungen, die anrollende Delta-Welle abzufedern. Erstmals seit diesem Sommer ist die Zahl der positiv auf Corona Getesteten im Wochendurchschnitt unter 20.000 gefallen. Auf dem Höhepunkt der vierten Welle waren es knapp 24.000 täglich. Die landesweite Inzidenz liegt jetzt bei 217 und sinkt damit seit einer Woche ununterbrochen. Nur im Südosten des Landes, in den Departements Bouches-du-Rhône, Var, Alpes-Maritimes werden noch Inzidenzen von deutlich über 400 gemeldet.  

Hochburg der Impfgegner

Dieser Mittelmeergürtel ist auch die Hochburg der Impfgegner. Sie kritisieren Macron dafür, mit der heimlichen Impfpflicht eine Zweiklassengesellschaft geschaffen zu haben. Seit sechs Wochen protestieren jeden Samstag die Vertreter der so genannten Anti-Vax-Bewegung, eine bunte Mischung aus Gelbwestenanhängern, Gegnern der Schulmedizin und Sympathisanten der rechts- wie linkspopulistischen Parteien, die zum Teil mit antisemitischen Parolen auf sich aufmerksam machen. In der an Nachrichten eher armen Sommerpause haben die französischen Medien diesen Demonstrationen viel Platz eingeräumt. Zum vorläufigen Höhepunkt der Proteste waren aber nach offiziellen Zahlen nur über 237.000 Impfgegner auf der Straße. Seit einigen Wochenenden sinkt ihre Zahl. Am vergangenen Samstag wurden 175.000 in ganz Frankreich gezählt. Jüngste Umfragen zeigen, dass über die Hälfte der Franzosen die Anti-Vax-Bewegung nicht unterstützt. Fast drei Viertel der Befragten befürworten die Passpflicht bei Flugreisen. 65 Prozent finden richtig, dass man nur geimpft, genesen oder getestet ein Krankenhaus betreten darf – Ausnahmen gibt es dort nur für Notfälle. 

Macron und sein Regierungschef haben die Kritik ausgesessen, auch weil es ihnen durch die radikale Politik eindeutig gelungen ist, die Überlastung der Intensivstationen in der vierten Welle zu verhindern. Derzeit müssen 2239 Covid-Patienten intensivmedizinisch versorgt werden. Täglich sterben im 7-Tagesdurchschnitt 118 Menschen. Nur aus einem Krankenhaus in Marseille mussten Patienten in eine andere Region verlegt werden. Inzwischen gibt es auch Statistiken, die Auskunft über den Impfschutz geben: Schafft man gleich große Vergleichsgruppen, hat man als Ungeimpfter ein sechsmal höheres Risiko, ins Krankenhaus zu kommen und ein elfmal höheres, auf der Intensivstation zu landen.  

Nur in den französischen Übersee-Departements sind die Krankenhäuser komplett überlastet. Dort hat die Delta-Welle verheerend zugeschlagen, auch weil die Impfskepsis unter der Bevölkerung deutlich ausgeprägter ist und die Impfquoten entsprechend niedrig sind. Auf der Karibikinsel Guadeloupe herrscht noch immer eine Inzidenz von mehr als 2000. In allen französischen Überseegebieten gelten Ausgangssperren, der Schulbeginn wurde verschoben und Pflegepersonal musste eingeflogen werden. 

Viele Junge ließen sich impfen

Auffallend in Frankreich ist, dass sich viele junge Menschen haben impfen lassen. Über 20 Prozent der 12- bis 17-Jährigen haben sich eine erste Impfung geholt, vermutlich weil auch für sie ab Ende September Passpflicht gilt. Obwohl die Regierung eine Impfpflicht für diese Altersklasse im Augenblick ausschließt, werden mit Schulbeginn Impfzentren in den Mittelschulen und Gymnasien eingerichtet, sodass sich impfwillige Jugendliche ohne Aufwand impfen lassen können. 

Versagt haben die Franzosen allerdings in einer besonders gefährdeten Altersklasse: Bei den über 80-Jährigen beträgt die Quote der Erstgeimpften nur 84 Prozent, trotz gezielter Bemühungen, alte Menschen auf dem Land zu erreichen.