Experten warnen angesichts der Aussagen von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), wonach die Regierung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nun verstärkt die Eigenverantwortung der Bevölkerung in den Mittelpunkt stellen will, vor zu viel Nachlässigkeit. "Wir müssen jetzt extrem aufpassen, dass wir nicht in eine Lage wie in den Niederlanden kommen, wo sich die Infektionszahlen innerhalb einer Woche versiebenfacht haben", sagte Epidemiologe Gerald Gartlehner in der "ZiB2".
Mittelfristig sei die Strategie, die Bevölkerung in die Eigenverantwortung zu entlassen, richtig, jetzt sei es dafür aber noch zu früh, so Gartlehner. Der Epidemiologe sprach sich weiters dafür aus, die 3-G-Regeln in der Nachtgastronomie strenger zu gestalten und kann sich auch vorstellen, Corona-Tests kostenpflichtig zu machen, um die Menschen zur Impfung zu bewegen. Eine Impfpflicht im Gesundheitsbereich wie in Frankreich hält Gartlehner für überlegenswert. Was die Infektion von Vollimmunisierten betrifft, beruhigt er: Diese hätten keine schweren Verläufe.
Auch der Komplexitätsforscher Stefan Thurner warnt im "Kurier" (Dienstagsausgabe) vor zu viel Lockerheit. "Wir brauchen einen Sicherheitspuffer. Sollte die Durchimpfungsrate bei circa 60 Prozent stagnieren, wird die Gefahr für große Ausbrüche bleiben." Für Simulationsforscher Nikolas Popper ist der aktuelle Anstieg der Zahlen nicht überraschend, er sei die logische Konsequenz aus den Öffnungsschritten. Um die Dynamik zu bremsen, müssten zwei Dinge getan werden: "Möglichst viele Menschen durchimpfen und Testscreenings durchführen", so Popper im "Kurier".
"Virus wird nicht verschwinden"
Kurz hatte heute eindringlich an alle Bürger appelliert, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Die Infektionszahlen werden nämlich auch in Österreich bald wieder steigen, sagte er am Sonntagabend (Ortszeit) in New York. "Das Virus wird nicht verschwinden, es wird bleiben. Es wird uns noch Jahre beschäftigen", so Kurz. Er machte zugleich bekannt, dass er vor wenigen Tagen seine zweite Astrazeneca-Impfdosis erhalten hat.
"Für jeden, der geimpft ist, ist die Pandemie vorbei. Für jeden, der nicht geimpft ist, ist das Virus ein massives Problem", warnte der Kanzler im Gespräch mit österreichischen Journalisten. Ein Anstieg der Ansteckungszahlen wie jüngst in Südeuropa oder den Niederlanden "wird auch bei uns stattfinden", sagte er. Nach eineinhalb Jahren Erfahrung mit dem Coronavirus wisse man nämlich: "Diese Pandemie kommt in Wellen."
Im Vergleich zu den früheren Wellen gebe es nun aber die Impfung als "Gamechanger", sagte Kurz. Diese schütze auch gegen alle bisherigen Varianten einschließlich der Delta-Variante. Er selbst stelle dabei "jeden Tag" die Frage, ob es eine Mutation gebe, die von der Impfung nicht abgedeckt sei, versicherte er.
Kurz betont Eigenverantwortung
Kurz hatte erst kürzlich die Eigenverantwortung im Umgang mit der Pandemie betont. Nun machte er klar, dass die Bundesregierung ein Interesse an möglichst vielen geimpften Menschen in Österreich habe. So versuche man mit den Bundesländern "ein ganz niederschwelliges Angebot zu schaffen", um etwa auch Personen zu erreichen, die sich ohne Anmeldung impfen lassen wollen. Auch Kooperationen mit Vereinen wie der Freiwilligen Feuerwehr seien geplant.
An finanzielle Anreize für Impfungen denkt Kurz offenbar nicht. "Wir haben bisher darauf gesetzt, die zu impfen, die das wollen", beantwortete der Kanzler eine entsprechende Frage der APA. Wenn die Ansteckungszahlen wieder steigen, gehe er davon aus, dass das Impfangebot auch von jenen Menschen angenommen werde, die bisher die Hoffnung hatten, dass das Virus "verschwindet".
Kurz betonte zugleich, dass es von der türkis-grünen Regierung "ein klares Commitment zum Präsenzunterricht" im Herbst gebe. Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) habe diesbezüglich schon "ein gutes Konzept ausgearbeitet, das im Detail im August präsentiert wird". Der Kanzler ließ durchblicken, dass dieses Konzept auf Testungen beruhen könnte.
Kurz trat zugleich Kritik entgegen, wonach die Öffnungsschritte zu weit gehen. "Wir haben ein stärkeres Sicherheitsnetz als andere Länder", sagte er mit Blick auf die hohe Testintensität und die 3G-Regel. Außerdem habe jeder Mensch die Möglichkeit, über die geltenden Vorschriften hinaus zu gehen und sich zu schützen. "Ich bin doppelt geimpft und lasse mich trotzdem testen", sagte der Kanzler. Wie aus dem Bundeskanzleramt verlautete, erhielt der 34-Jährige vor wenigen Tagen die zweite Dosis des Astrazeneca-Impfstoffes. Die erste Spritze hatte er Anfang Juni bekommen.
Skepsis gegenüber Grenzschließungen
Skeptisch äußerte sich Kurz auch auf die Frage nach möglichen neuen Grenzschließungen. "Das Virus macht vor Grenzen keinen Halt", sagte er. Zwar seien "gewisse Grenzmaßnahmen" sinnvoll gewesen, "aber aufhalten konnte das Virus niemand", sagte er unter Verweis darauf, dass sich etwa die Delta-Variante trotz Einreisebeschränkungen über Europa ausgebreitet habe. Zugleich plädierte Kurz für einen "klaren Blick auf das Wesentliche" in der Pandemie. "Wir wollten immer eine Überforderung der Spitäler verhindern, und das muss weiter das Ziel sein", sagte er.
SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher sieht eine "Kaltschnäuzigkeit" des Kanzlers. Offenbar wolle sich Kurz von jeder Verantwortung im Zusammenhang mit dem Pandemie-Management verabschieden: "Wenn er die Pandemie jetzt zur Privatsache erklärt, überlässt er alle, die sich nicht impfen lassen können - Kinder unter 12 Jahren und Menschen, die sich aus Gesundheitsgründen nicht impfen dürfen - der Pandemie."
Umweltmediziner Hans-Peter Hutter plädierte indes im Ö1-"Mittagsjournal" angesprochen auf die jüngsten Aussagen von Kurz für weiterhin "einfache, kleinere Maßnahmen" über den Sommer. Das sei besser "als tatsächlich wieder größere Bewegungseinschränkungen hin in den Herbst hinein". Man dürfe nicht vergessen, "es sind noch viele nicht geimpft und einige werden auch nicht impfen gehen, beiziehungsweise einige können auch gar nicht geimpft werden, sodass man sich nur auf das Impfen stützt, aus meiner Sicht wirklich zu wenig ist", sagte der Forscher vom Zentrum für Public Health der MedUni Wien.
Hutter betonte die Wichtigkeit von Verordnungen und verwies auf die 3G-Regeln und neben Schulen sowie Spitälern auf "viele Innenraumsituationen, die nach wie vor Achtsamkeit benötigen". Es sei "sicherlich an der Zeit, dass man natürlich Lockerungen durchführt". Auf der anderen Seite sei "alles viel zu schnell gegangen" und es brauche "nach wie vor doch auch seitens unserer Regierung gewisse Rahmenbedingungen, die vorgegeben werden", warnte er.