Monatelang hätte es nicht besser laufen können. Ein strikter Lockdown, gekoppelt mit einer perfekt organisierten Impf-Aktion, hat die Briten aufatmen lassen und für Zuversicht gesorgt. Von mehr als 60.000 täglichen Neuinfektionen im Jänner ist die Zahl auf kaum mehr als 2000 gesunken. Die Zahl der täglichen Covid-Toten, die bereits bei 1800 lag, ist auf weniger als ein Dutzend pro Tag geschrumpft. 69 Prozent aller Erwachsenen haben eine erste Impfdosis erhalten und 36 Prozent ihre zweite. Für Montag sind darum erhebliche Erleichterungen vorgesehen.
Erstmals seit Jahresanfang soll man wieder fremde Haushalte (in begrenzter Zahl) in deren Wohnung besuchen dürfen. Pubs, Restaurants, Kinos, Theater öffnen ihre Türen. Schüler müssen keine Masken mehr tragen im Unterricht. Fünf Wochen darauf soll sogar „weitgehende Normalität“ herrschen. Selbst auf soziale Distanzierung könne man dann vielleicht verzichten, war noch vor kurzem von Ministern zu hören.
Plötzlich aber hat sich, mitten in dieser Aufbruchsstimmung, ein Schatten über die Aussicht geschoben. Die Ankunft der gefürchteten „indischen“ Variante hat beträchtliche Ungewissheit geschaffen – und zur Sorge geführt, das es mit der ersehnten Freiheit nichts wird.
Lockdown-Maßnahmen nicht mehr ausgeschlossen
Premier Boris Johnson, der noch zu Ostern versicherte, es werde keine Rückkehr zu alten Restriktionen geben, will mit einem Mal „nichts mehr ausschließen“. Die neue Variante bereite ihm „große Sorge“, sagte Johnson alarmiert. Eine Öffnung der Gesellschaft könne es nur geben, „solange diese Variante nicht abhebt, wie es einige Leute fürchten“, sagte Johnson. Selbst neue regionale Lockdown-Maßnahmen seien in einem solchen Fall nicht mehr ausgeschlossen, bestätigte das Gesundheitsministerium.
Die Angst der Regierung und ihrer Experten ist begreiflich. Noch ist die Zahl der gemeldeten Infektionen mit dem neuen Virus-Typ niedrig, aber allein vorige Woche hat er sich fast verdreifacht. Vor allem in Teilen Nordwestenglands und in London scheint er sich rasch auszubreiten. Unter diesen Umständen hat die Regierung nun beschlossen, ihre Impfstrategie kurzfristig zu ändern und jüngeren Leuten in den betroffenen Gebieten unverzüglich eine Erst- und Zweitimpfung anzubieten, nur um die Verbreitung der Variante zu bremsen.
Größte Sorge: Impfung könnte nicht mehr wirken
Das Problem sei, dass man damit anderen Personen eine Impfung vorenthalte, und dass der Impfstoff erst drei Wochen nach Verabreichung wirksam werde, warnt Professor Paul Hunter von der Universität East Anglia. Die größte Sorge ist aber, dass die neue Variante die Wirkung der verfügbaren Impfstoffe zunichtemachen könnte – und sie so den gesamten Kraftakt der Vormonate relativieren würde. Bisher gebe es dafür allerdings „keine Beweise“, sagte der für das Impfen zuständige Minister Nadhim Zahawi.
Örtliche Lockdowns halten die meisten Experten aber für nutzlos. „Ich denke, dass wir das als ein landesweites Problem betrachten sollten“, sagt Professor James Naismith, Direktor des Rosalind-Franklin-Instituts in Oxford. „Diese Variante kommt letztlich überall hin.“ Frühere Versuche, über unterschiedliche Regionen unterschiedliche Restriktionen zu verhängen, hätten „nicht wirklich einen Unterschied gemacht“. Wichtig sei, schnell zu handeln, betont Rowland Kao von der Uni Edinburgh.
In Wales, das unabhängig von England Gesundheitspolitik betreibt, wurde bereits beschlossen, einige vorgesehene Lockerungen auszusetzen, bis man mehr Klarheit hat.
unserem Korrespondenten Peter Nonnenmacher aus London