Ein Tagesrekord an Neuinfizierten und Corona-Toten folgt dem nächsten. Mehrere neue und hoch ansteckende Virusmutanten greifen, scheint es, ungehindert um sich. Die Spitäler sind heillos überlastet, Angehörige suchen verzweifelt für schwerkranke Familienmitglieder nach Krankenhausbetten und Sauerstoff. Die Krematorien arbeiten auf Hochtouren. Das Ausland schickt Hilfe.
Für die Indien-Expertin Eva Wallensteiner hat sich der Subkontinent zu lange in Sicherheit gewähnt und zu viel der Hoffnung hingegeben. "Chaos! Es ist viel zusammengefallen, was einfach ganz schwierig ist", beschreibt Wallensteiner die Lage. Für die Dreikönigsaktion (DKA) der Katholischen Jungschar wickelt sie Entwicklungshilfeprojekte in Indien ab, die mit dem Geld finanziert werden, die Österreicher alle Jahre rund um Weihnachten den Sternsingern spenden. "Ich glaube, es ist nicht mehr kontrollierbar."
Indien mit seiner 1,3 Milliarden Menschen habe die erste Welle der Pandemie im Vorjahr "ziemlich gut" überstanden. Seit September des Vorjahres mit - im weltweiten Vergleich wenigen, aber bei wenigen Testungen - 90.000 Infizierten sei die Zahl der Betroffenen auf 11.000 pro Tag zurückgegangen. Heuer im März habe die Regierung schließlich verlautbart, Corona sozusagen besiegt zu haben.
"Da war die Hoffnung so groß." Niemand habe sich einfach auch vorstellen wollen, was passiert in einem solchen Land, wo nur wenige Möglichkeiten haben sich zu isolieren, nicht im Home-Office arbeiten können, "zu sechst, zu acht zu zehnt nur einen Raum zur Verfügung haben". Während in Europa vielerorts harter Lockdown herrschte und die Intensivstationen drohten, an ihr Limit zu geraten, seien in Indien Hochzeiten gefeiert worden, die Menschen seien normal ihrer Arbeit nachgegangen, "und aus Indien hörte ich: 'No problem!' Und ich sehe auf den Bildern keine Masken mehr, keinen Abstand mehr", sagt Eva Wallensteiner, die auch für die Katholische Frauenbewegung tätig ist. Zugleich hätten alle gewusst, das vergleichsweise wenig getestet wird und die Zahlen mit Vorsicht zu genießen waren. "Es war eine schlafende Gefahr."
Faktoren, die zur Eskalation führten
Es war laut der 52-Jährigen ein "Gemisch" aus pandemischen und menschengemachten Faktoren, das zu der dramatischen und tödlichen Eskalation der vergangenen paar Wochen geführt hat. Sie nennt religiöse Feste mit Massenandrang, die nicht abgesagt wurden, die Mutationen, Regionalwahlen, die in fünf Unionsstaaten, die mit Versammlungen einhergingen, nur lockere und von vielen nur schwer einzuhaltende Anti-Covid-Maßnahmen, eine verschlafene Impfkampagne.
Dahinter stehe ein Narrativ vom krisengewöhnten und -erprobten Indien, von Indien als "Apotheke der Welt", das mit Blick auf Impfstoffe und Medikamente gut aufgestellt ist, von der Widerstandsfähigkeit der Inder, von ihrem Sieg über Pest und Polio durch die Durchimpfung in den letzten zwei Jahrzehnten, von einer vermeintlich bereits erreichten Herdenimmunität, von einer jungen Bevölkerung mit eher milden Krankheitsverläufen, von einem für die Ausbreitung des Coronavirus ungünstigem Klima. "Die Hoffnung war nicht ganz unbegründet, aber sie war trügerisch. Die Menschen sind unvorsichtig geworden."
Kulturelle Besonderheiten
Wallensteiner erinnert etwa an die Bilder von der jüngsten Kumbh Mela, dem nur etwa alle zwölf Jahre stattfindenden wohl größten Fest der Hindus. Millionen kamen dazu trotz der Gefahr durch das Coronavirus am Ganges zusammen. "Dass man das in der Pandemie nicht aussetzt, ist für uns unverständlich. Auf der anderen Seite, wenn ich daran glaube, dass die Göttin Ganga, dieser Fluss, über die Kraft verfügt, meine Sünden wegzuwaschen, dann müsste auch Corona kein Problem sein!", beschreibt die Expertin kulturelle Besonderheiten Indiens.
Nicht alle Faktoren für die Eskalation seien jedoch hausgemacht, betont Wallensteiner gegenüber. Laut Experten sei zwar die wertvolle Zeit zwischen der ersten und jetzigen zweiten Welle für eine groß angelegte Impfaktion ungenutzt verstrichen und es seien keine zusätzlichen Pharma-Produktionsstätten errichtet worden. Andererseits sei auch Indien auf Pharma-Rohstoffe aus anderen Ländern angewiesen, die nicht geliefert wurden. Indien habe auch viele antivirale Medikamente exportiert, die nun im eigenen Land fehlen. So werden nun Arzneimittel aus den USA "rückimportiert". Auch Test-Kits sind Mangelware in der "Apotheke der Welt".
Das gegenwärtige gesellschaftliche Klima in Indien beschreibt Wallensteiner mit den Worten: Angst und verstärkter Zusammenhalt. Bei Videokonferenzen sieht sie "viele Tränen (...) viel Verzweiflung (...). Da schaut man in Gesichter, die zwar immer noch von Hoffnung getragen sind, aber es bricht diese Angst auch durch." Wut auf die Regierung stehe derzeit nicht im Vordergrund, obwohl "das Vertrauen in den Staatsapparat gerade komplett zusammenbricht". "Es fehlt die Kraft für Aufruhr und Aufruhr bringt nichts. Jetzt ist einmal Krisenbewältigung angesagt." NGOs wie jene, die die DKA unterstützt, seien nun im Corona-Hilfseinsatz, indem sie Sauerstoff oder Spitalplätze beschaffen. Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft und den Behörden braucht es nach Ansicht Wallensteiners aber viel, viel mehr.
Lage in den Landesteilen unterschiedlich
Die Lage ist ihr zufolge in verschiedenen Landesteilen unterschiedlich. Der Unionsstaat Maharashtra mit seinen Wanderarbeitern und der Wirtschaftsmetropole Mumbai sowie die Hauptstadtregion um Neu-Delhi seien weitaus härter getroffen als etwa der abgelegene Nordosten mit Assam, Mizoram und Meghalaya, die dünner besiedelt seien und strikte Einreisekontrollen verhängten sowie den Verkehr im Inneren beschränkt haben. Zugleich sei das Virus von den Städten "unübersehbar sehr stark am Land angekommen", wo die Gesundheitsversorgung schlechter sei.
Drei Bekannte in Indien hat Eva Wallensteiner in den vergangenen Wochen durch Covid verloren. Die Krisenmaschinerie der Regierung sei angesprungen. Unterdessen horteten jene, die daran kommen, Sauerstoff bei sich zu Hause, für den Fall, dass sie selbst erkranken. Und immer mehr indische Millionäre und Milliardäre kaufen sich Aufenthaltstitel im Ausland und "suchen das Weite".