Die Worte von Suviray John sind drastisch: "Vor manchen Spitälern stehen viele Krankenwagen und werden ihre Patienten nicht los. Teilweise sind sie auf der Suche nach einem freien Krankenhausbett zwei, drei Tage durch die ganze Stadt gefahren und haben keines gefunden. Manche Patienten sterben im Krankenwagen und die Krankenhäuser haben nicht genug Platz, um die Leichen zu lagern", erzählt der Chefarzt im Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus in Delhi.
Verzweifelt kämpft der Mediziner in der indischen Hauptstadt gegen die heftige zweite Coronawelle, und ist dennoch oft machtlos. Im ganzen Land mangelt es an Medikamenten, freien Spitalsbetten und Sauerstoff, um schwer erkrankte Patienten zu beatmen. Indien meldete am Dienstag 3293 weitere Tote und 360.960 Neuinfektionen. Damit gab es zum siebenten Mal in Folge mehr als 300.000 neue Fälle am Tag. Mit 18 Millionen Erkrankten und 201.187 Toten ist Indien nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität nach den USA das Land mit den meisten Infizierten. Experten befürchten jedoch, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegen dürfte, da in Indien nach wie vor wenig getestet wird.
Der Sauerstoff ist knapp
"Viele Krankenhäuser haben derzeit nicht genug medizinischen Sauerstoff. Das gesamte medizinische Personal arbeitet im Überlebensmodus bis zur körperlichen und emotionalen Erschöpfung und versucht, so viele Leben wie möglich zu retten", berichtet John. Trotz der rund um die Uhr arbeitenden Ärzte und Pfleger müssen Hinterbliebene in Krematorien aushelfen, um ihre verstorbenen Angehörigen einzuäschern.
Zuerst weitreichende Ausgangssperren
Mit der weltweit größten Ausgangssperre versuchte Indien zu Beginn der Pandemie, den Kollaps zu verhindern. Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitung des Virus vorgegangen. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft waren katastrophal, Staat und Hilfsorganisationen mussten Millionen Menschen mit Lebensmittelhilfslieferungen unterstützen. Die relativ geringen Infektions- und Todeszahlen schienen Premier Narendra Modi recht zu geben. Anfang Juni 2020 wurde der Lockdown jedoch schrittweise gelockert.
Anfang April dieses Jahres kamen beim Kumbh Mela, dem größten hinduistischen Fest, Millionen zusammen, um gemeinsam und oft ohne Abstand und Maske zu feiern und im Ganges zu baden. Auch wenn die Teilnahme offiziell nur mit negativem Test erlaubt war, wurden die Feierlichkeiten zum Superspreader-Event. "Kein anderes Land hatte so einen schnellen Anstieg der Infektionszahlen wie Indien. Wir haben mit einer zweiten Welle gerechnet, aber nicht, dass sie so dramatisch werden würde", sagt John.
Indien-Experte Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin hatte schon zu Beginn der Pandemie damit gerechnet, dass das öffentliche Gesundheitssystem irgendwann kollabieren könnte. Er glaubt, dass der Kampf der Regierung gegen die Pandemie von Anfang an kaum zu gewinnen war.
Die zweite Welle sei derzeit "außer Kontrolle", sagt Franklin Jones, Chef des Katastrophenmanagements der internationalen Hilfsorganisation World Vision in Indien. "Die Menschen betteln um ein Krankenhausbett für sich und ihre Angehörigen, einige Menschen sterben auf den Gehwegen vor den überfüllten Kliniken. Mancherorts ist der Sauerstoff ausgegangen und beatmete Patienten sind deshalb in Krankenhäusern erstickt. In Teilen der Bevölkerung herrscht Panik", sagt der erfahrene Helfer. Auch mehr als 100 Mitarbeiter und Familienmitglieder haben sich infiziert. Alleine in der Vorwoche starben zwei von ihnen.
Vor allem der Mangel an Sauerstoff macht Jones Sorgen. Die Regierung setzt Militärflugzeuge und Züge ein, um Sauerstoff in die besonders betroffene Hauptstadt zu bringen. In den sozialen Netzwerken und auf dem Schwarzmarkt versuchen Angehörige, zu überteuerten Preisen überlebensnotwendige Flaschen aufzutreiben. "Leider horten auch Erkrankte, die nicht beatmet werden müssen, Sauerstoff und Medikamente für den Notfall. Das verschärft die Lage. Die Regierung hat die Industrie angewiesen, sofort Sauerstoff herzustellen, aber ich befürchte, dass die dramatische Situation sich noch mindestens zehn Tage verschlimmern wird, bevor die Lage sich entspannt", sagt Jones.
Die Regierung hat die Hilfsorganisation deshalb gebeten, sie bei der Beschaffung von Sauerstoff und medizinischer Ausrüstung zu unterstützen. Außerdem betreibt World Vision Aufklärungsarbeit zur Vermeidung von Infektionen und klärt über die Impfkampagne der Regierung auf. Denn trotz der dramatisch hohen Zahl an Neuinfektionen gibt es in Teilen der Bevölkerung noch immer von Fake News über mögliche Nebenwirkungen geschürte Vorbehalte gegenüber der Impfung.
Wenn man selbst erkrankt
Die 53-jährige Pratibha Srivastava hat sich Ende März in der Millionenstadt Bhopal infiziert. "Obwohl ich mich sofort in Quarantäne begab, habe ich meine beiden Kinder und meinen Mann angesteckt. Die in Indien vorherrschende Virusmutation ist sehr aggressiv. Ich hatte hohes Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, trockenen Husten und war sehr erschöpft", berichtet die Koordinatorin der Welthungerhilfe. Würde sie sich heute infizieren und schwer erkranken, wäre es nicht gewährleistet, dass sie ein Spitalsbett bekäme. "Die Menschen, die jetzt schwer erkranken, haben Angst, dass sie das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen", sagt die Expertin für öffentliche Gesundheit.
Angst mache ihr auch, dass mittlerweile viele jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen schwer erkranken: "Es gibt einfach zu wenig Testkapazitäten. Von symptomfrei Erkrankten, die das Virus unwissentlich verbreiten, geht eine große Gefahr aus." Aus Angst vor der Ausbreitung der Virusmutante B.1.617 hat Österreich – wie viele andere Länder – einen Einreisestopp für Indien verhängt.
Trotz der derzeit dramatischen Situation gibt Suviraj John sich kämpferisch: "Unser Land hat in der Vergangenheit schon viele Katastrophen wie Hungersnöte durchgemacht. Aber diese zweite Welle stellt uns alle auf eine unerwartete harte Probe. Doch Inder sind sehr gut darin, sich in Krisen neu zu erfinden."