"Wir sind sehr weit gegangen. Wir haben alles aufgekauft, was zu kaufen war.“ Mit diesen Worten verteidigte Sandra Gallina am 12. Jänner 2021 im fast menschenleeren EU-Parlament vor den via Video verbundenen EU-Abgeordneten die Impfstoffbeschaffung für die EU und ihre 27 Mitgliedsstaaten. Gallina ist die Vorsitzende des für den Impfstoffkauf von der EU-Kommission eingesetzten Lenkungsgremiums. Bei der Anhörung vor dem EU-Parlament ging es noch nicht um den umstrittenen Abtausch („Basar“) von Impfstoff-Dosen unter den EU-Staaten, von dem manche Regierungschefs laut Sebastian Kurz nichts wussten. Vielmehr zeichnete sich schon damals der noch viel schwerer wiegende Rückstand der EU bei Liefermengen und Impfplänen ab. Vor dem EU-Parlament verteidigte sich Gallina, „im ersten Quartal sind es noch nicht so viele Impfdosen, wie wir uns wünschen würden. Die Verträge enthalten Zeitpläne, die ab April sehr viel mehr Impfdosen versprechen.“
Kritik vom "Drosten Italiens"
Doch viel schärfer als vor den EU-Mandataren geriet Gallina in ihrer von Covid-19 schwer geplagten Heimat Italien ins Kritikfeuer. Dort führt Italiens prominentester Virologe Roberto Burioni, vielfach ausgezeichneter Mikrobiologe und Virologie-Professor an der Universität Vita-Salute San Raffaele in Mailand, seit Monaten einen Stimmungsfeldzug für rasches Impfen: „Vacciniamo alla svelta!“ Burioni erwarb sich viel Ansehen, weil er sich vehement und furchtlos gegen Kampagnen von Impfgegnern gestellt hatte.
Lange vor Genehmigungen drängte Burioni auch zu früher Impfstoffbeschaffung der EU und übte scharfe Kritik an der Zeitverschleppung. Am 28. Feber schließlich veröffentlichte der „Drosten Italiens“ auf Twitter, wo er über 285.000 Follower hat, den EU-offiziellen Lebenslauf von Sandra Gallina. Diese hat ihr Studium an der Universität Triest summa cum laude absolviert – in Übersetzung und modernen Sprachen. Zehn Jahre lang arbeitete sie dann bei der EU-Kommission als Dolmetscherin. Danach stieg sie in der Generaldirektion Handel bis zur Vizechefin der Generaldirektion Handel auf. Erst im Sommer 2020 wurde sie von Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen in die EU-Generaldirektion für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit geholt, seit Dezember offiziell als Generaldirektorin.
Spät optioniert
Als Gallina im 16. Juni 2020 zur Vorsitzenden der Lenkungskommission zur Impfstoffbeschaffung gewählt wurde, hatten andere die Bestellung längst abgegeben: Bei AstraZeneca machten Großbritannien und die USA den Optionsvertrag bereits im Mai fest, die EU erst Ende August. Mit Pfizer/Biontech schlossen Großbritannien und die USA Verträge bereits im Juli ab, die EU erst am 11. November.
Vertragslücken zur Mengen und Haftung
Aus den erst nach Kritik an Lieferproblemen veröffentlichten Verträgen ging hervor, dass sich AstraZeneca zu „Best Reasonable Effort“, also nur bestmöglichen Anstrengungen, aber zu keinen genauen Daten verpflichtet hatte. Schwerwiegend auch die Vertragsmängel zur Haftung: Demnach müsse unter bestimmten Bedingungen jeder einzelne EU-Staat AstraZeneca „indemnify and hold harmless“, also schadfrei halten – bis hin zu mitangeführten Zulieferern (siehe Faktencheck).
Auers Rolle hinterfragenswert
Die in ihrer Kompetenz angegriffene EU-Verhandlungsführerin Gallina konterte öffentlich Burioni, man solle „nur über etwas reden, das man kennt“. Der streitbare Virologe hingegen stellte Gallinas Lebenslauf jenem der britischen Verhandlungsführerin gegenüber: Kate Bingham, Biochemie-Absolventin der Universität Oxford mit Harvard-MBA, seit 29 Jahren tätig für große Kapitalfonds für Investitionen in Medikamentenforschungsplattformen.
In italienischen Medien wird insgesamt die Kompetenz des EU-Lenkungsgremiums im Verhandlungspoker mit den Anwaltsheeren der Pharmakonzerne angezweifelt. Co-Vorsitzender im EU-Lenkungsausschuss Gallinas war der nun von Gesundheitsminister Rudolf Anschober abgezogene Gesundheitsbeamte Clemens Martin Auer. Zu seiner einstimmigen Wahl zum Stellvertreter Gallinas am 16. Juni 2020 verlautete aus dem Gesundheitsministerium: „Für Österreich ist das ein enormer strategischer Gewinn. Damit können wir die Richtung vorgeben, was die Beschaffung eines künftigen Covid-19-Impfstoffes betrifft.“ Worin sich der „enorme strategische Vorteil“ für Österreich mit Auer gezeigt haben soll, wird in ausführlicher Befragung noch zu erklären sein.
Nachsehen beim Impftempo
Das Nachsehen der EU bei Impfstoffen und Impftempo zeigt täglich der Bloomberg-Covid-19-Vaccine-Tracker. Stand 18. Feber waren von 410 Millionen in 132 Ländern verabreichten Dosen weltweit in den USA 115 Millionen Dosen verimpft, in der EU mit 54 Millionen Dosen nicht einmal halb so viele, während Großbritannien allein bereits 27,6 Millionen Impfungen verabreicht hat. Israel hat mit 9,6 Millionen Impfdosen praktisch die Hälfte der Bevölkerung geimpft. Österreich liegt mit 1,15 Millionen Impfungen im EU-Mittelfeld. 9,7 Prozent der Bevölkerung sind einmal geimpft, erst 3,3 Prozent sind auch mit einer Zweitimpfung immunisiert.
Adolf Winkler