Auch Tage später lässt die Corona-Demonstration in Wien, bei der es am Samstag zu Ausschreitungen gekommen war, die politischen Wogen hochgehen. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) verurteilte diese im Nationalrat scharf. „Ich halte diese Ereignisse für inakzeptabel, es widert mich an, und es sollte in Österreich keinen Platz haben.“ Schuld an der Eskalation sei laut ÖVP-Generalsekretär Axel Melchior FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl, der auf der Demonstration aufgetreten war. Er müsse „von allen politischen Ämtern zurücktreten“. Auch Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, schoss sich auf Kickl ein. Er trage „die Verantwortung für die Eskalation“.
Kickls Auftritt war natürlich kein Zufall. Die FPÖ hat Gegner der türkis-grünen Corona-Maßnahmen schon längst als neue Zielgruppe ins Visier genommen. Freiheitliche Strategen sehen großes Potenzial darin, jene abzuholen, für die die Maßnahmen existenzbedrohend oder schlicht frustrierend sind. Zudem passe das Eintreten gegen überbordende Maßnahmen zur Positionierung der „Freiheitspartei“.
Kickl meldet sich in diesen Minuten zu den Protesten zu Wort, den Livestream dazu finden Sie hier:
Kickl: ÖVP will von Skandalen ablenken
Kickl selbst meldete sich am Dienstagvormittag zu seinem Demo-Auftritt zu Wort. Dass die Menschen "friedlich ihrem Unmut auf der Straße Ausdruck verleihen", sei nichts verwerfliches. Seither beobachte er ein "Verdrehen der Tatsachen, fast eine Perversion" seitens der Regierung über die Vorkommnisse. "Ich halt das schon aus, wenn ein eiskalter und überforderter Bundeskanzler und ein unfähiger Innenminister ihre Frustration an mir auslassen." Nicht mitspielen werde er aber, wenn die Teilnehmer diskreditiert werden. Die ÖVP habe "eine riesige Korruptionsfront offen", von der man nun ablenken wolle. Man bausche die Geschehnisse auf, um von denen eigenen Skandalen abzulenken.
Um zu zeigen, "wie es ist", habe man einen Augenzeugen-Aufruf gestartet, "hunderte" Einsendungen habe es seither gegeben. So rekonstruiere man die Vorkommnisse und recherchiere abseits der "Propagandatexte", die das Innenministerium ausschicke. Die Partei spielte bei der Pressekonferenz immer wieder Videomaterial ein vom Samstag, unter anderem die Abführung einer älteren Demonstrantin. Der Klubobmann legte dar, wie die Polizei mit Straßensperren die Demonstranten behindert habe. "Das war ganz offenbar eine Strategie, um für Frustrationserlebnisse zu sorgen."
"Wählergruppen volatil wie nie"
„Nachdem Wählergruppen volatil wie nie sind, scheint das der FPÖ tatsächlich wieder etwas Boden unter den Füßen einzubringen“, erklärt Politikberater Thomas Hofer. „Aktuelle Umfragen sehen die Freiheitlichen bei 17, 18 Prozent.“ Der Auftritt von Kickl könnte diesen Aufwärtstrend jedoch gefährden. „Die Art des Auftritts war sehr brachial. Damit kann man vielleicht bei Extremen und Corona-Leugnern punkten, die machen aber nur eine sehr kleine Wählergruppe aus.“ Jene Wähler, die nach der Ibiza-Affäre zur ÖVP gewandert sind, werde man so aber wohl kaum zurückholen können. „Damit könnte man die sogar verschrecken.“
Kommentar von Michael Jungwirth
Auffallend ruhig verhielt sich indes Parteichef Norbert Hofer, was die Kritik am Auftritt seines Klubobmannes bei der Demo betrifft. In einer Aussendung sprach er sich gegen „die pauschale Kriminalisierung verzweifelter Menschen“ aus, die an der Demo teilgenommen hatten. Kickl erwähnte Norbert Hofer mit keinem Wort.
Laut Politikberater Thomas Hofer spiele der Parteichef aber ohnehin keine große Rolle mehr. „Derzeit zeichnet sich ein Konflikt zwischen Kickl und dem zweiten starken Mann in der Partei ab – Manfred Haimbuchner.“ Der mächtige oberösterreichische Landesparteichef stehe für eine gänzlich andere Politik. „Während Kickl im Vergleich zur damaligen Inszenierung unter Strache als „soziale Heimatpartei“ nun auf harten Oppositionskurs setzt und die Partei damit als mögliche Koalitionsoption aus dem Spiel nimmt, gibt sich Haimbuchner deutlich gemäßigter.“
"Brüche in der Botschaft"
Für Haimbuchner kommt Kickls extremer Kurs zudem zur Unzeit, muss er im Herbst doch die letzte blaue Hochburg Oberösterreich bei den Landtagswahlen verteidigen. Und auch in der Parteizentrale kann nicht jeder etwas mit Kickls Zugang anfangen. Zwar bringe das der Partei mediale Aufmerksamkeit, doch das ewige Dagegensein sorge auch dafür, dass eigene Corona-Vorschläge nicht gehört werden, räumt ein hochrangiger blauer Funktionär ein.
Die unterschiedlichen Zugänge zu Corona und den Demonstrationen offenbare laut Politikberater einmal mehr das altbekannte Dilemma der Doppelspitze Hofer/Kickl. „Die funktioniert einfach nicht.“ Nach Straches Abgang sei das nur eine Verlegenheitslösung gewesen, nun zeigen sich die „Brüche in der freiheitlichen Botschaft“ immer deutlicher. „Auf lange Sicht wird das aber nicht zu halten sein. Die Partei wird sich für eine Ausrichtung entscheiden müssen – die von Kickl oder die von Haimbuchner. Auch für die Zeit nach der Krise.“