Die bekannten Komplexitätsforscher, Modellrechner, Virologen, Epidemiologen, die seit Ausbruch der Pandemie vor einem Jahr im Dauerstress sind, wirkten schon einmal entspannter. Auch im letzten Herbst stiegen die Coronazahlen in Österreich zunächst langsam an, ehe sie um den Nationalfeiertag herum dramatisch an Fahrt aufnahmen und im November durch die Decke schossen – mit täglich hundert Toten und mehr. Erleben wir ein Déjà-vu? Ist es die Ruhe vor dem Sturm? Werden wir im März von der dritten Welle überrollt? Steuert Österreich in den vierten Lockdown? Oder kommt es diesmal anders?
Mutation in Wien bei 80 Prozent?
Stefan Thurner, Chef des „Complexity Science Hub“, Wissenschaftler des Jahres 2017 und einer der engsten Berater der Regierung, sieht die Entwicklung voller Sorge. „Wenn innerhalb von zwei Wochen die Sieben-Tage-Inzidenz um 30 Prozent steigt, kann man nicht beruhigt sein.“ Tatsächlich ist der Wert von 102 (am 8. Februar) auf aktuell 134 angestiegen. Der ehemalige Statistikprofessor Erich Neuwirth, der aus freien Stücken das Geschehen seit einem Jahr sehr penibel verfolgt, hat einen weiteren besorgniserregenden Effekt ausfindig gemacht: „Seit ein paar Tagen steigen wieder die Hospitalisierungen.“ Und andernorts ist zu erfahren, dass die Mutationen in Ostösterreich rasant im Vormarsch sind, im Großraum Wien angeblich bei 80 Prozent.
Impfungen noch ohne Auswirkungen
Tatsächlich hat es Österreich seit Herbst nicht geschafft, Corona in den Griff zu bekommen. Von den 8400 Coronatoten sind 7000 seit Anfang November verstorben. Die Infektionszahlen sind seit vier Monaten nicht mehr dreistellig, die Kontaktverfolgung funktioniert nur auf dem Papier.
Thurner, Neuwirth, aber auch Modellrechner Niki Popper hüten sich im Gespräch, Prognosen für die nächsten Wochen abzugeben. „Es kann durchaus sein, dass der jetzige Anstieg auf die Öffnungen und das vermehrte Testen zurückzuführen ist“, versucht Popper dem Trend etwas Positives abzugewinnen. „Dann müssten sich die Zahlen bald auf hohem Niveau stabilisieren.“ Allerdings sei dies nur möglich, wenn die Behörden rigoros positiv Getestete, etwa jene Schüler, die bei den Schnelltests im Klassenzimmer herausgefischt werden, in Quarantäne stecken.
Inoffiziell bereits 1,3 Millionen Infizierte
In einem Punkt sind alle drei Experten einer Meinung: dass sich die Impfungen nicht so bald in den Zahlen niederschlagen werden. Popper erinnert daran, dass seriöse Zahlen über die Wirksamkeit der Impfung nur möglich sind, wenn der elektronische Impfpass mit dem EMS verknüpft wird. Offiziell haben sich 450.000 Österreicher mit dem Virus infiziert, die Dunkelziffer dürfte, so Popper, bei 1,3 Millionen liegen. Uneins ist man sich in der Bewertung von Tirol. „Die Zahlen gehen hinunter“, so Neuwirth, „die Maßnahmen greifen offenkundig.“ Thurner, selbst Tiroler, ist da vorsichtiger. Eine Region, die alle ratlos zurücklässt, ist der Bezirk Hermagor mit einer Inzidenz von mehr als 600.
"Müssen bereit zur Vollbremsung sein"
Am Montag lädt der Kanzler zum nächsten Corona-Gipfel. Ob Lockerungen, wie von der Wirtschaft eingefordert werden, möglich sind, lässt man offen. Eines müsse allerdings außer Streit gestellt werden. „Wir müssen auf Sicht fahren und so gerüstet sein, dass wir jederzeit eine Vollbremsung hinlegen können“, so Thurner. „Und zwar auf der Stelle.“ Worauf er anspielt: Im Herbst benötigte die Politik fast zwei Wochen, bis man sich auf Maßnahmen verständigt hatte. Seit damals befindet sich Österreich in einer Art Dauerlockdown.