Sie haben in den letzten Monaten die Auswirkungen der Maßnahmen auf Familien beobachtet. Was macht Corona mit unseren Kindern?
Martina Leibovici-Mühlberger: Es ist ganz wesentlich, dass wir da die Auswirkungen thematisieren. Denn die Effekte auf Kinder sind schon beängstigend. Man muss bedenken, dass vor allem junge Kinder eine sehr lebendige Bedürfnislandschaft nach Nähe, nach Austausch, nach Berührungen haben. Diese Bedürfnisse müssen sie nun unterdrücken. Das ist besonders für Kinder schwer. Das geht nur dann, wenn das Kind sich wirklich sehr selbstdiszipliniert. Das bedeutet aber, wenn das nachhaltig passiert, dass synaptische Netzwerke überschrieben werden. Dazu müsse man noch einen Faktor bedenken. Wenn ein 60-jähriger Mensch ein Viertel seines Lebens unter diesen Bedingungen gelebt hätte, hätte er das erlebt, was momentan ein vierjähriges Kind durchmacht. Ein Vierjähriges hat etwa 25 Prozent seines Lebens unter diesen Maßnahmen zugebracht. Da kann man sich durchaus vorstellen, dass das Kind stabile Netzwerke entwickelt, die seine natürliche Lebendigkeit unterdrücken. Für unsere Kinder könnte etwas anderes Normalität werden, und damit auch der Verlust der Fähigkeit nach tieferer Emotion.
Wie können Eltern dem entgegenwirken?
Natürlich ist es begrenzt, was Eltern tun können. Die Umstände können sie nicht ändern. Aber ich muss mir dessen bewusst sein, wie wichtig es ist, dass mein Kind diese lebendigen Bedürfnisse, die es spürt, auch leben kann. Ich muss die Nähe, den Körperkontakt, die Kommunikation, das gemeinsame Tun nun ganz vorne und hoch ansetzen. Das ist die Kompensation, die ich meinem Kind bieten kann. Es steht außer Zweifel, dass zu kuscheln, zu spielen oder in den Wald zu gehen, noch nie so wichtig war wie jetzt.
Gerade für Jugendliche sind soziale Kontakte besonders wichtig. Wie wirkt sich Abstandhalten auf sie aus?
Ergebnisse einer Studie zu Jugendlichen zeigen auf berührende Art, wie rücksichtsvoll und solidarisch sie mit der Bevölkerung sind, obwohl sie sich selbst gar nicht als gefährdet einschätzen. Trotzdem verzichten sie auf viel. Und auf wie viel sie verzichten, kann man erst dann ermessen, wenn man sieht, dass die Jugendlichen gerade ihrer wesentlichen Entwicklungsbühnen beraubt werden. Diese müssten sie entwicklungspsychologisch gerade jetzt bespielen. Das sind soziale Positionierungen für das spätere Leben, sozusagen das Trainieren sozialer Geschmeidigkeit. Und das können sie nun nur ganz, ganz reduziert.
Wie können Eltern da helfen?
Es ist wichtig, ein Bewusstsein auszubilden, dass es nun einige Jugendliche gibt, die von einem grauen Grundgefühl, von einer Sinnentleerung sprechen. Ein Drittel der Jugendlichen sieht schlechtere Zukunftsperspektiven für sich selbst als vor Corona. Der Befund ist eine Katastrophe. Wenn sich das verfestigt, hat das Auswirkungen auf die Motivation und den Antrieb. Wir produzieren eine Generation, die ihre PS nicht auf die Straße bringen kann. Hier gibt es wesentlichen Handlungsbedarf. Ich finde, deswegen sollte man den jungen Menschen, die sich so verantwortungsbewusst benehmen, das Vertrauen schenken und ihnen verdeutlichen, dass sie keine Semikriminellen sind, wenn sie sich mit Abstand draußen und mit Maske treffen. Sie tun es ja zum Teil, aber mit furchtbar schlechtem Gewissen. Und das sollte man ihnen nehmen.
Krise kann für Familien auch Chance sein. Wie kann das gelingen?
Ganz wesentlich ist es, eine Struktur aufzubauen. Jene, die es schaffen, strukturiert zu sein, die vielen ineinanderfließenden Bereiche in einem Strukturplan zu trennen und den Wohnungslebensraum kreativ, aber nach einem Plan umzugestalten, kommen besser durch die Krise. Ausgesprochen hilfreich ist es auch, gemeinsame, moderierte Familienzeiten zu planen. Das sollten Aktivitäten sein, wo auch der Jüngste in der Gruppe eingebunden werden kann. Sprich alles, was gemeinsames Erleben stärkt, hilft, die Enge zu überbrücken.
Weihnachten ist oft durch zu hohe Erwartungen noch ein zusätzlicher Stressfaktor für viele Familien. Wie kann man heuer ein entspanntes Fest feiern?
Durch den Lockdown gibt es mehr Zeit für die Familie. Weihnachtsfeiern und andere Verpflichtungen fallen weg. Diese gewonnene Zeit kann man auch für Intimität mit der Familie nutzen. Etwa Zeit gemeinsam rund um den Adventkranz verbringen. Es muss nicht beten sein, es reicht ja, wenn man sich austauscht und plaudert. Diese Art von familiärem Innehalten – dafür hatte ich in den letzten Jahren wenig Zeit.
Maria Schaunitzer