Angesichts schnell steigender Infektionszahlen führt nun auch die schwedische Regierung verschärfte Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie ein. Ab Dienstag kommender Woche dürfen sich nur noch maximal acht Menschen für öffentliche Zusammenkünfte und Veranstaltungen versammeln, wie Ministerpräsident Stefan Löfven mitteilte. Bislang lag die maximale Teilnehmerzahl für Versammlungen bei 50 Personen. Für Kinos, Konzerte, Theater und Sportveranstaltungen mit gewissen Sitzplatzkapazitäten galt sogar eine Grenze von bis zu 300 Teilnehmern. Mit Ratschlägen und Empfehlungen sei man im Frühjahr weit gekommen, nun aber brauche es Verbote, wie Innenminister Mikael Damberg ergänzte.
Schweden war in der Coronakrise bislang einen viel beachteten Sonderweg mit vergleichsweise lockeren Maßnahmen und Appellen gegangen. Kritiker hatten den Behörden deshalb vorgeworfen, mit ihrer Strategie Menschenleben zu gefährden. Viel wurde auch darüber gestritten, ob die Schweden dank Lockdown-Verzicht ihre Wirtschaft besser durch die Krise gebracht haben.
Wenn man auf die im Spätherbst zugänglichen Daten schaut, scheint das tatsächlich so zu sein.
Lockere schwedische Coronapolitik hat Wirtschaft geschont
Und eigentlich ist der Grund dafür schnell erklärt. Die Konsumfreudigkeit der Menschen (die Kaufkraft durch Arbeitsplätze haben) beeinflusst das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes enorm. Wenn fast alles auf einmal dichtmacht, wie bei den europaweiten Lockdowns, leidet die Wirtschaft sehr.
Schweden verzichtete auf einen solchen Lockdown. Es gab keine Maskenpflicht, fast alles blieb erlaubt und geöffnet, alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich 9. Klasse, Kindergärten, Büros, Bars bis spät nachts, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und gar einige Kinos. Während Großbritanniens Boris Johnson wegen Corona im Krankenhaus lag, ging Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven öffentlich shoppen. Noch bis zum 29. März durften 500 Menschen in Schweden zusammenkommen. Bis heute sind es 50. Die Experten vom Gesundheitsamt bestimmten statt der Regierung über die Strategie Schwedens.
Auch eine IMF-Analyse zeigte, je härter der Lockdown eines Landes war, desto mehr sank die Wirtschaftsleistung.
Somit ist die Nachfrage in Schweden deutlich milder eingebrochen als im europäischen Vergleich. Auf gespenstig leere Straßen, Geschäfte und Restaurants traf man nicht in Stockholm. Selbst zum Höhepunkt der Krise. So hat das schicke Bistro Süd im Stadtteil Södermalm zwar einige Mitarbeiter freistellen müssen, und nun an Sonntagen geschlossen, weil doch etwas weniger Kunden kommen. Gut besucht ist es dennoch jeden Tag, wie alle anderen guten Restaurants. Die Tische hat man hier halbherzig ein wenig auseinandergestellt. Auch die Geschäfte sind gut besucht. Schwedens Bürger vertrauen traditionell den Behörden. Entsprechend lebte, konsumierte, arbeitete man fast so wie immer. Schweden setzt bis heute auf Empfehlungen, Freiwilligkeit und Bürgerverantwortungsbewusstsein.
Selbst beim Friseur Hårgänget auf der Götgatan herrscht voller Betrieb. Der Rest Europas sei langhaariger geworden, scherzt die Friseuse Eva, weil dort alle Friseure monatelang geschlossen waren. Das habe sie irgendwo gelesen. Schwedens Einzelhandelsumsatz sank im April um nur 3,4 Prozent. In Österreich waren es minus 18,1 Prozent, in Deutschland minus 6,2 Prozent.
Schwedens Wirtschaft war auch die einzige der größeren Volkswirtschaft Europas die im ersten Quartal 2020 sogar noch ein wenig wuchs. Von der Nachfrageseite des BIPs betrachtet, stand der Konsum der schwedischen Haushalte 2019 für hohe 45 Prozent. Der Außenhandel der Exportnation Schweden machte zum Vergleich mit 47 Prozent nur wenig mehr aus.
Beim Export hatte Schweden freilich die gleichen Probleme wie andere Länder auch. Teils auch deshalb brach das BIP im zweiten Quartal um 8,6 Prozent im Vergleich zum Vorquartal ein. Aber in Österreich waren es minus 12,1 Prozent zum Vorquartal, (Europadurchschnitt minus 12 Prozent, Deutschland minus 10 Prozent.)
Auch das am Donnerstag veröffentlichte vorläufige BIP für das dritte Quartal weist auf eine deutliche Erholung hin, mit einem laut schwedischen Medien „rekordmäßigen" und deutlich über den Markterwartungen liegendem Plus von 4,3 Prozent zum schlechten zweiten Quartal und Minus 3,5 Prozent zum gleichen Quartal im Vorjahr.
Auch die Stockholmer Börse zieht nach den schlechten Quartalen derzeit kräftig an. "Nachdem zwei Drittel aller schwedischen Aktiengesellschaften ihre dritten Quartalsberichte abgegeben haben, lag der Gewinn insgesamt bei plus 30 Prozent", sagt der bekannte Markt- und Börsenanalytiker Peter Malmqvist dieser Zeitung. Das sei "weit über den Prognosen die von plus 11 Prozent ausgingen", so Malmqvist. Noch nie zuvor sei "eine Kehrtwende so kraftvoll" gewesen. Neben Immobilienpreisen steigt zudem auch die Schwedische Krone (SEK) seit März deutlich an gegenüber den wichtigsten Währungen. Dies zum Teil, weil Anleger sehen, dass die Wirtschaftsdaten viel besser sind als in anderen Ländern.
Seit die Coronakrise im Frühling ihren ersten Höhepunkt erlebte, hat sich Schwedens Wirtschaft also durch den Lockdown-Verzicht relativ schnell erholt.
Auch die Arbeitslosigkeit steigt laut Nordea-Prognose nur leicht von sieben Prozent 2019 auf 8,5 Prozent 2020 und gleichbleibend 2021. Zur Exportabhängigkeit heißt es in dem Bericht, dass der Welthandel bereits zwei Drittel seines Verlustes wieder eingeholt hat, was positiv für Schwedens Export sein dürfte.
Ein wichtiger Punkt sind auch die öffentlichen Ausgaben. Schwedens rotgrüne Regierung hat dank guter Budgetlage (Überschuss 2019: 111,9 Milliarden Kronen) ein kräftiges Stützprogramm auf den Weg bringen können. Rund 300 Milliarden Kronen sind die geschätzten Kosten für das erste Krisenpaket gewesen. Um nur einige Beispiele daraus zu nennen: Um Arbeitslosigkeit zu verhindern bezahlt der Staat 50 Prozent der Kosten für Arbeitnehmer die befristet freigestellt oder in Kurzarbeit statt in die Arbeitslosigkeit gehen. Die Arbeitnehmer erhalten 90 Prozent ihres Lohnes. Der Staat übernimmt die Kosten für das Krankengeldanteil der Arbeitgeber. Auch Steuerzahlungen wurden aufgeschoben, um die Liquidität von Firmen zu verbessern, Kreditgarantien für Exportunternehmen und die Seefahrt wurden um 200 Milliarden Kronen erweitert, Erleichterungen bei der Kreditaufnahme und finanzielle Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen von bis zu 3 Milliarden Kronen sollen Insolvenzen abwenden. All das sind nur Teile eines enormen Konjunkturwiederankurbelungsprogrammes. Die Nationalbank hat 22 Banken 500 Milliarden Kronen Kredit zum Nullzinssatz angeboten, das Geld soll an kriselnde Firmen weiterverliehen werden.
Regierung und Nationalbank haben ihre Prognosen in eine positivere Richtung korrigiert.
Doch wie geht es weiter? Das exportabhängige Schweden dürfte an zweiten Wellen und erneuten Lockdowns in anderen Ländern leiden. In Schweden selbst ist ein Lockdown trotz wieder steigender Neuinfektionen nicht in Sicht. Man setzt weiter auf Empfehlungen.
Schwedens starke Wirtschaft sei in einer besseren Position als die vieler anderer Länder, wenn es darum geht, eine zweite Viruswelle zu verkraften, kommentiert dazu Robert Bergqvist, Chefvolkswirt bei der Großbank SEB.
Auch der Staat habe größere Abfederungsmöglichkeiten dank guter Haushaltslage. Zudem habe Schweden einen weniger von der Corona-Krise betroffenen Dienstleistungssektor als viele andere Länder, fügt er hinzu. "All das macht, dass wir weniger schlecht da rauskommen als der Rest Europas", sagt Bergqvist der Zeitung Svenska Dagbladet. Zudem sei das Internet sehr gut ausgebaut, so dass die meisten Wertschöpfungsprozesse ohne Probleme digital weiterlaufen.
Die Bank Nordea prognostizierte, dass Schwedens Wirtschaft in diesem Jahr insgesamt um nur rund 3,5 schrumpft. "Das halte ich für realistisch", sagt auch der unabhänige Experte Malmqvist dieser Zeitung. In der Eurozone dahingegen wird mit einem Minus von 8,5 Prozent gerechnet.
Haken an der Geschichte?
Aber gibt es einen Haken in der Erfolgsgeschichte? Schwedens gute Lage dank Lockdownverzicht sei auf den rund 6000 Gräbern der Corona-Toten aufgerichtet worden, heißt es vor allem in der ausländischen Presse. Tatsächlich ist die Todesrate hoch für insgesamt 10,2 Millionen Einwohner. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind rund zehn Prozent der Sterbefälle in Schweden auf Covid-19 zurückzuführen. Damit war die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit die dritthäufigste Todesursache. Ganz so einfach sei es jedoch nicht, die Corona-Strategie direkt mit der Sterberate zu korrelieren. Viele andere Faktoren spielten mit hinein.
Im Gespräch mit der Kleinen Zeitung äußert sich Staatsepidemiologe und Architekt des Sonderweges Anders Tegnell dazu. "Nein, der Grund für die zu Beginn der Pandemie vielen Toten waren punktuelle Schwachstellen beim Infektionsschutz in Altenheimen, die eigentlich auch ohne eine Pandemie funktionieren muss“, sagt er. Tatsächlich sind sehr alte und oft schwer kranke Menschen besonders gefährdet für Infektionen. Zudem stecken Schwedens Altenheime seit langem in der Kritik wegen der teils haarsträubend schlechten Pflegequalität.
Tegnell führt weiter aus, warum Schwedens Strategie und Todesrate nicht zusammenhängen: "Wir haben jetzt weiterhin die gleiche Grundstrategie und inzwischen eine minimale Covid-19 Ausbreitung in Altenheimen. Und die Ausbreitung in Altenheimen verschwand bereits, bevor die Ausbreitung in der Gesellschaft im Großen sank. Das sind klare indirekte Beweise dafür, dass auch die schwedische Strategie die Ausbreitung in Altenheimen verhindern kann. Zudem hatten einige Lockdown-Länder höhere Todesraten als Schweden", sagt Tegnell der Kleinen. Seit Ende Juli bis jetzt sterben in grob abgerundeten Intervallen ungefähr 7 bis 10 Menschen am Tag an Corona in Schweden.
Von unserem Korrespondenten Andre Anwar aus Schweden