Eine Pandemie verändert unsere Gesprächskultur: Statt gemeinsam an einem Tisch zu sitzen und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf unser Gesundheitssystem zu diskutieren – Corona trifft ja auch Herzpatienten schwer –, treffen wir uns virtuell per Videokonferenz. Im Gespräch: die Gesundheitslandesrätinnen Beate Prettner (Kärnten/SP) und Juliane Bogner-Strauß (Steiermark/VP) sowie der Mediziner Gerhard Stark (Barmherzige Brüder, medizinische Leitung der Österreichischen Ordensprovinz in Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei) und Siegfried Vössner von der TU Graz. Stark und Vössner sind exzellente Kenner des Gesundheitssystems, sie sind technikaffin und seit den frühen 2000er-Jahren bekannt für ihre Rechenmodelle: Sie sagten als Erste den Ärztemangel vorher. Ihre Expertise und Zukunftsmodelle haben einen hohen Realitätscharakter – jetzt geht es darum: Was kann und wird die Politik davon umsetzen?
Die Zeit dreht sich derzeit sehr schnell, wenn man Maßnahmen und Erkrankungszahlen ansieht: Wie betrachtet die Medizin die von der Politik gestellten Maßnahmen?
GERHARD STARK: Wir stehen nicht nur vor einem medizinischen, sondern auch vor einem soziologischen Problem. In der Literatur finden Sie ein Honeymoon-Phänomen, das sich am Beginn des ersten Lockdowns zeigte, wo alle für zwei bis vier Wochen gut zusammenarbeiteten und gut zusammenhielten. Tatsächlich haben wir aber nur ein Zeitfenster von zwei bis vier Wochen, danach bricht das auseinander. Ich denke, in der Situation sind wir jetzt. Das Thema: Wie weit haben wir eine solidarische Gesellschaft oder wie weit bricht uns diese Gesellschaft auseinander? Und da ist es in der Politik wichtig, das Augenmaß nicht zu verlieren, mit welcher Maßnahme schütze ich und welche Maßnahmen sind noch verträglich, nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für das soziale Verhalten der Bevölkerung. Wir gehen aber davon aus, dass österreich- und europaweit gesetzte Maßnahmen Wirkung zeigen. Es ist also eine gespannte Haltung mit viel Zuversicht. Auch wenn wir Leistungsverschiebungen von geplanten Eingriffen vornehmen müssen.
Welchen Plan verfolgt die Politik, um Menschen in Zukunft überzeugen zu können?
BEATE PRETTNER: Wir hatten schon eine Diskrepanz in der Kommunikation. Wir müssen der Bevölkerung klarmachen, dass es sinnstiftend ist, sich zu schützen aufgrund vieler Fälle und der unbekannten Langzeitkonsequenzen.
Aber Corona-Skeptiker verbreiten Unsicherheit.
JULIANE BOGNER-STRAUSS: Wir müssen die Kommunikation ändern, damit wir alle mitnehmen, weil wir jetzt auch mehr wissen und die Schutzausrüstung und die Testmöglichkeiten haben. Das Virus kann auch junge Menschen verheerend treffen. Wir müssen bei Jüngeren auch um Verständnis werben, dass die Gruppe gefährdet ist. Wir schaffen es noch nicht gut genug, Menschen in Eigenverantwortung zu nehmen und ihnen zu erklären, dass es alle treffen kann und dass wir einander schützen müssen.
Welche Maßnahme könnte den Menschen Orientierung und so etwas wie Sicherheit vermitteln?
GERHARD STARK: Wenn wir wüssten, wann ein Lockdown kommt, und wenn dieser vorhersehbar wäre – wie Ferien in der Schule. Das wäre für Menschen ein geringeres Problem. Wir könnten adaptieren, uns einrichten und gar nicht so schlecht leben. Der erste Lockdown wurde innerhalb einer Woche angesagt und umgesetzt. Es geht aber jetzt um Vorhersehbarkeit und Vorhersagbarkeit. Ich habe zuletzt mit Vertretern aus der Wirtschaft gesprochen, einige könnten sich das Modell eines vorhersehbaren Lockdowns schon vorstellen.Wird es diese Planbarkeit für die Zukunft geben?
SIEGFRIED VÖSSNER: Schwierige Frage: Wir beschäftigen uns seit Jahren sehr intensiv mit der Modellierung. Dabei muss man allerdings zuerst verstehen, was man modelliert. Das Bild war am Anfang sehr diffus. Seither waren sehr viele Experten am Werk, Modellierer, Simulationsexperten, Mathematiker, und sie wurden gefragt, ob sie etwas voraussagen können. Wenn wir einen Lockdown vorhersagen wollten, müssten wir zuerst besser verstehen, wie die Übertragungsmechanismen funktionieren. Man würde Daten von Contact Tracing, von Erfahrungsberichten und andere Daten zusammenbringen müssen, mit allen Experten die Faktenlage klären und ihr Wissen in einem Modell zusammenführen, dazu auch Politiker und Entscheider mitnehmen.Damit könnte man Menschen überzeugen?
SIEGFRIED VÖSSNER: Menschen, die vernunftbegabt sind, muss ich eine Argumentation liefern, warum ich einen Lockdown mache. Man hat aus mangelndem Grundverständnis auf Einzel-Experten zurückgegriffen, Professoren, Ärzte, Theoretiker, Praktiker, und jeder hat seine wissenschaftliche Meinung abgegeben. Nun, als normaler Bürger, weiß ich nicht mehr, was und wem ich glauben soll. Erst wenn man ein gutes Modell hat, würde man wagen, eine Vorhersage zu treffen.Ein Lockdown ist nach den Erfahrungen öffentlicher Meinung mit einem wirtschaftlichen Desaster gleichzusetzen. Wären geplante Lockdowns eine politische Vision, die man nach außen tragen könnte?
JULIANE BOGNER-STRAUSS: Mit der Wirtschaft ist im Vorfeld schon immer gesprochen worden. Ich könnte es überhaupt nicht verstehen, die Schulen offen zu halten und die Wirtschaft komplett zuzudrehen. Zum Lockdown: Wir haben zuletzt auch immer wieder auf Italien geschaut, das es geschafft hat, mit Disziplin die Infektionszahlen niedrig zu halten. Trotzdem sind innerhalb von zwei bis drei Wochen die Zahlen dort explodiert. Alle Berechnungsmodelle haben nicht standhalten können und der Lockdown ist schneller gekommen als erwartet. Es ist schwierig, mit Expertenmeinungen hinauszugehen. Die Divergenzen sind sehr groß.
SIEGFRIED VÖSSNER: Man hört eben einzelne fachliche Meinungen und der Bürger fragt: Was soll ich damit machen? Wahrscheinlich muss man sich in Friedenszeiten ein heterogenes Team, eine Basis für Diskussionen, suchen, das diese nicht öffentlich austrägt, sondern Modelle für spätere Entscheidungen entwirft.
JULIANE BOGNER-STRAUSS: Es braucht ein heterogenes Team, aber auch mit Menschen aus der Gesellschaft. Ich freue mich, wenn wir einmal allumfassend Zahlen über Monate haben, diese ausgewertet haben und einen maßgeschneiderten Pandemieplan machen können.
Ist der geplante Lockdown, der periodisch wiederkehrt, überhaupt eine politische Option?
BEATE PRETTNER: Wir haben viel gesehen und extrem viel dazugelernt. Wenn wir diese Pandemie nicht in den Griff bekommen, dann werden wir wahrscheinlich diese Bremsen-und-Gas-geben-Politik weitermachen müssen. Was mir gefallt: das Bild von Herrn Vössner. Wir müssen das weiter genau erforschen. Und ich hoffe, dass es Medikamente geben wird, um die explosionsartigen Verbreitungswellen verhindern können. Was wir derzeit machen: Wir schützen unser Gesundheitssystem, im Moment liegt der Fokus auf Covid-19 und Erkrankten. Ich hoffe nicht, dass es lange dauern wird, aber derzeit haben wir kein anderes Instrumentarium.
Viel Hoffnung wurde in den letzten Jahren in neue Spitalspläne gelegt: Macht Corona die Pläne obsolet?
GERHARD STARK: Wenn wir Patienten kürzer im Spital haben, bedeutet das auch kürzere Kontaktzeiten. Ich denke, das sind alles Motoren, die man nutzen kann, um eine bedarfsorientierte und leistbare Medizin zu sichern, aber auch etwas menschlich Wichtiges zu tun. Es geht darum, dass wir nur Leistungen dort erbringen, wo sie benötigt werden und das mit ausreichenden Ressourcen. Corona hält viele gefangen, aber was in Krisensituationen immer bedacht werden sollte: Krisensituationen brauchen ein erhöhtes Maß an Normalität, ein erhöhtes Maß an Disziplin zum Normverhalten, wir müssen Medizin weiterentwickeln, nicht nur bezogen auf die Pandemie, sondern auch bezogen auf die Regelversorgung. Wir müssen achtsam sein, dass diese Corona-Pandemie, so schwierig sie phasenweise sein mag, nicht unsere gesamte Entwicklung des Gesundheitssystems hemmt.
Wo wird man ansetzen müssen?
BEATE PRETTNER: Der niedergelassene Bereich kann viel von den Krankenanstalten fernhalten. Aber vieles ist schwierig. Wir wollen etwa in Kärnten einen Heimarzt installieren, einen dauerhaften Ansprechpartner – aber das ist derzeit ein Ding der Unmöglichkeit. Österreich hat die freie Arztwahl. Dabei wäre es in Pandemiezeiten wichtig, dass man jeden Tag denselben Ansprechpartner hat.
SIEGFRIED VÖSSNER: Ein Krankenhaus ist ja kein technisches System, so ein Krankenhaus ist ein medizinisches System und es geht um Menschen. Die medizinisch gefühlte Versorgung, nicht die reale ist ja ausschlaggebend für Entscheidungen, ob ich von einer Region wegziehe oder dort hingehe. Man braucht ein Modell zur Erklärung, das nicht nur aus medizinischen Kennzahlen besteht, sondern aus einem Versorgungsangebot, das medizinische Experten, Entscheidungsträger und die Bevölkerung erarbeitet haben und mittragen.
JULIANE BOGNER-STRAUSS: Corona wird ein Katalysator für E-Health-Anwendungen sein, wir sind da gut unterwegs: von der Herzinsuffizienz bis zum Diabetes unterstützenden Programmen oder der Teledermatologie. Wir brauchen ein Gesamtpaket und keine Einzellösungen. Sonst wird das Stadt-Land-Gefälle schlimmer werden.
Wie weit wird Corona die Medizin beeinflussen?
GERHARD STARK: Wir sind zurzeit Lernende, wir wachsen an den Dingen. Lockdowns sind wie ein großer Filter gegen die Pandemie, den man über die gesamte Bevölkerung legt. Meine Prognose, solange wir kein echtes Mittel gegen die Pandemie haben: Wir werden sehr wahrscheinlich auch im nächsten Jahr mit periodischen Lockdowns rechnen müssen. Ich halte aber nichts davon, dass man noch mehr Druck auf die Bevölkerung ausübt. Sie geht nicht mit. Es geht vielmehr darum, um Verständnis zu werben. Die Bedürfnisse des Menschen nach Optionen müssen ernst genommen werden, sie durch eine Pandemie nur bedingt ausleben zu können, bleibt das Schicksal dieser Zeit.
Didi Hubmann