Das Areal vor dem Wiener Ernst-Happel-Stadion unweit des Praters gibt in diesen Wochen eine traurige Kulisse ab. Wer in den Abendstunden mit der U-Bahn oder mit dem Auto bei der Teststraße dort aufkreuzt und Pech hat, wartet, erzählen Ordner, zwei bis drei Stunden, bis ein Abstrich genommen wird. Ähnlich lange Schlangen kennt man aus der Zeit vor dem Mauerfall aus dem Osten Europas.
Eine Stunde in der Warteschleife
Wer Fieber und Halsweh bekommt und bei 1450 anruft, hängt in der Bundeshauptstadt bisweilen mehr als eine Stunde in der Warteschleife. Vereinzelt landen Quarantäne-Bescheide erst im Postkasten, wenn die Quarantäne bereits vorbei war. Schulen befinden sich, wie eine Direktorin erzählt, angesichts nahezu täglich auftauchender Verdachtsfälle im "permanenten Ausnahmezustand". In Abwandlung eines berühmten Zitats des Kanzlers zeigt sich: Im Großraum Wien kennt fast jeder jemanden, der Abenteuerliches über das Chaos bei den überforderten Gesundheitsbehörden zu erzählen weiß.
Die Unzulänglichkeiten im Kampf gegen Corona rücken in diesen Tagen in der Vordergrund, weil wieder die Zahlen steigen und gefragt werden muss: Warum? Ein Blick auf die europäische Landkarte enthüllt allerdings, dass dies keine Naturgesetzlichkeit ist. Acht Länder haben höhere Infektionszahlen, Italien, Deutschland, die Schweiz, aber auch die skandinavischen Länder spielen in einer anderen Liga. Im Frühjahr zählte Österreich zu den Ländern mit der geringsten Todesrate und durfte sich als Corona-Musterland feiern – wenn man von Ischgl, von dem aus halb Deutschland angesteckt wurde, absieht. Derzeit gehört Österreich zu den Nachzüglern.
Die Schuldfrage
Die Politik neigt dazu, der Bevölkerung die Schuld für den sprunghaften Anstieg in die Schuhe zu schieben – Stichwort fehlende Eigenverantwortung, mangelnder Hausverstand, unvernünftige Partykultur. Die Koalition muss sich allerdings fragen lassen, ob sie nicht nach Ostern durch rasche Öffnungsschritte eine trügerische Normalität suggeriert hat. Zumindest der Wegfall der Maskenpflicht in Geschäften und Lokalen war wohl ein falsches Signal.
Epidemiologen und Virologen erinnern bei jeder Gelegenheit daran, dass schnelles Contact Tracing der Schlüssel zum Erfolg ist. Zumindest in den Ballungsräumen scheinen die Gesundheitsbehörden völlig überfordert zu sein. Offenkundig hat man den Sommer ungenutzt verstreichen lassen und keine Vorkehrungen getroffen. Erst jetzt nimmt die Stadt Wien 1000 zusätzliche Personen auf.
Wer sich auf die Suche nach den Schuldigen begibt, stößt schnell auf den byzantinischen Kompetenz-Dschungel, der das Gesundheitssystem prägt. So gesehen kann man es nur begrüßen, dass die Regierung heute mit den Landeshauptleuten zu einem Krisentreffen im Kanzleramt zusammenkommt.