Was tun, wenn 2019 im Mai noch über 120.000 Reisende ins Land kamen – und 2020 waren es dann im gleichen Monat gezählte 924 (in Worten: neunhundertvierundzwanzig)? Im Fall Islands in Europas äußerstem Nordwesten: Nach den Touristenlawinen der letzten Jahre zunächst kurz durchatmen – wir sprechen von 2,3 Millionen Besuchern im Jahr 2018 bei 356.000 Einwohnern. Dann: Bangen um eine/die Haupteinnahmequelle.
Guter Rat ist wie an so vielen sonst überaus beliebten Orten der Welt teuer. Um originelle Ansätze war die Vulkaninsel im Nordatlantik aber nie verlegen. Eine neue Werbekampagne setzt – mindestens halbernst gemeint – auf kathartisches Schreien, vorzugsweise in Islands wundervoller Landschaft selbst: "Promote Iceland", gewitzte Marketingfirma, die mit dem Lukrieren ausländischer Kunden beauftragt ist, steckt hinter der Aktion. Von Corona gefrustete Menschen in aller Welt können über die pfiffige Seite "www.lookslikeyouneediceland.com" vor ihrem digitalen Endgerät losschreien, dass sich die Balken biegen.
Bitte?
Der Schrei wird mit Klick auf einen Button auf der Website aufgenommen und im Land über gelbe Lautsprecher mit der Aufschrift "Let it out!" ausgespielt. Die Botschaft: "Du hast viel durchgemacht. Zeit, es rauszulassen!" Die Boxen sind an Islands schönsten "Spots" aufgestellt und beschallen die Umgebung (in der es günstigerweise, wie so oft dort, kaum Menschen gibt). Ohne also selbst vor Ort zu sein, hört man sich in einem Live-Video auf Island schreien (stellen Sie die Lautstärke übrigens nicht zu hoch ein, wenn Sie die Seite besuchen). Ergänzend zu den aufgenommenen Urlauten ist zu sehen, wo diese entstanden.
Auf Youtube gibt es das köstliche Video "Let it out!", das bereits bei acht Millionen Aurufen hält:
Angesichts einer nun die Welt bereits seit einem halben Jahr beutelnden Pandemie dürfte der Bedarf, Frust abzulassen erheblich sein. Letztlich wollen Islands Tourismusbehörden so aber wieder Gäste auf ihre Insel locken: "Wir wissen nicht, wie viele Besucher in diesem Jahr nach Island kommen werden. Ich bin nicht einmal sicher, ob wir die 600.000 erreichen können", sagt Islands Tourismusministerin Thordis Kolbrun Gylfadottir und gibt noch eher optimistische Zahlen aus.
Auch wenn derzeit kaum Menschen kommen, herrscht kein Konsens, wie viele Personen man bei besonders beliebten Sehenswürdigkeiten überhaupt zulassen würde. Ende Juli wurde die maximale Teilnehmerzahl für Veranstaltungen von Gesundheitsministerin Svandis Svavarsdottir wieder herabgesetzt: von 500 auf nur 100.
Island gilt insgesamt als Musterbeispiel bei der Bewältigung der Coronakrise: Bislang gab es auf der mit märchenhaft-epochaler Natur reichlich gesegneten Insel nur zehn Todesfälle – und keinen mehr seit 18. April. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen bewegt sich abgesehen von einem Ausreißer am 6. August (20 Fälle) seit Monaten im einstelligen (!) Bereich.
Aber zurück zum Frustablassen: Auch eine Schreianleitung der Therapeutin Zoë Aston wird gestressten Usern gereicht – das Urtümliche fällt dem Menschen in einer sonst heillos verlärmten Welt wohl nicht mehr ganz so einfach: "Einige Leute wollen Lautstärke, einige gebrauchen Wörter und andere könnten den Atem nutzen. Stehen Sie – und zwar so, dass die Füße hüftbreit auseinanderstehen. Die Knie sollten leicht gebeugt sein, die Schultern sollen entspannt bleiben. Sie werden es als hilfreich empfinden, ihre Hände an die Hüften zu legen."
Am wichtigsten sei es bei der ganzen Angelegenheit "seinem Instinkt zu folgen" – man stelle sich ein Baby vor, wenn es weint. Das Ganze komme ja "aus dem Bauch". Sie sind zum Schreien, diese Íslendingar!