Lautes Knallen und Zischen durchbricht derzeit jede Nacht die Stille der in der Coronavirus-Pandemie weitgehend verstummten Millionenmetropole New York. Nach jeder Explosion erhellen irgendwo über der Stadt bunte Lichter den dunklen Himmel. "Das geht jetzt schon seit Wochen so", sagt die Mitarbeiterin eines Cafes in Manhattan.
Unabhängigkeitserklärung 1776
Unter ihren Gästen, die derzeit Kaffee nur zum Mitnehmen abholen können, sei der nächtliche Krach eines der vorherrschendsten Gesprächsthemen. "Eigentlich mag ich ja Feuerwerk, aber dieses macht mir irgendwie auch Angst. Und es weckt mich ständig auf nachts." Feuerwerk gehört zum "Independence Day", dem Nationalfeiertag der USA am Samstag (4. Juli), dazu. Normalerweise wird dieser patriotischste aller Feiertage des Landes, der auf die Unabhängigkeitserklärung 1776 zurückgeht, traditionell in den Farben der blau-weiß-roten Nationalflagge, mit großen Grillpartys und riesigem Feuerwerksspektakel begangen.
Angesichts steigender Coronavirus-Neuinfektionen in weiten Teilen des Landes sind solche Veranstaltungen aber vielerorts abgesagt worden, beispielsweise in Los Angeles. Das Großfeuerwerk in New York wurde auf mehrere Tage verteilt, um zu verhindern, dass wie sonst üblich Zehntausende an den Flussufern der Stadt gemeinsam das Spektakel anschauen. US-Präsident Donald Trump wurde am Vorabend des Nationalfeiertags bei einem Feuerwerk am Denkmal Mount Rushmore im US-Staat South Dakota erwartet.
Private Feuerwerke sind in Teilen der USA verboten, auch in der dicht bevölkerten Millionenmetropole New York. Rund um den Unabhängigkeitstag aber feuern jedes Jahr einige Menschen illegal besorgte Böller, Knaller und Raketen ab. Normalerweise geht das im Getöse New Yorks unter. Diesmal aber ist es deutlich mehr, und es trifft auf eine von der Pandemie und anhaltenden Protesten gegen Polizeibrutalität und Rassismus schwer gebeutelte Stadt.
Während es im ersten Halbjahr 2019 laut Polizei 54 Beschwerden wegen illegalen Feuerwerks gab, waren es 2020 bereits mehr als 11.000. In zahlreichen anderen Städten der USA mehren sich ebenfalls solche Beschwerden, auch Berichte über Verletzte und Sachschäden gibt es.
New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo gestand vor kurzem in einem Interview mit dem Radiosender WAMC ein, dass er selbst derzeit manchmal von der Knallerei wach werde. "Ich weiß nicht, was da los ist. In New York klingt es momentan nachts manchmal wie im Wilden Westen." Die Situation sei "außer Kontrolle". Wie auch Bürgermeister Bill de Blasio kündigte Cuomo an, gegen den illegalen Verkauf von Feuerwerkskörpern vorgehen zu wollen. "Wir werden das hart angehen und sofort dagegen vorgehen", sagte de Blasio und ließ eine Sondereinheit der Polizei einrichten, die bereits erste Festnahmen verkündete. Zuvor hatten zahlreiche Menschen vor seinem Wohnsitz in Manhattan gegen die Knallerei demonstriert und laut mit ihren Autos gehupt. "Wenn wir nicht schlafen können, schläft keiner", wurde skandiert.
Warum die Feuerwerksknallerei in diesem Jahr so stark zugenommen hat, darüber kursieren viele Mutmaßungen - bis hin zu Verschwörungstheorien. Am wahrscheinlichsten erscheint die simpelste Erklärung: Langeweile. In der Coronakrise hat in New York immer noch vieles geschlossen, Schulen und Universitäten sind in der Sommerpause. Zehntausende Menschen haben ihre Jobs verloren. "Wir feiern quasi die Tatsache, dass wir überlebt haben", sagte ein 24-Jähriger, der anonym bleiben wollte, der "New York Times".
Eine zweite Krise mischt sich auch noch dazu. Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis demonstrieren seit Wochen landesweit zigtausende Menschen gegen Rassismus und Polizeibrutalität. Auch das private Feuerwerk könnte mancherorts Teil des Protests sein.
"Land macht wieder auf"
Der Verband der Feuerwerkshersteller der USA bestätigte, dass in diesem Jahr deutlich mehr Kracher, Böller und Raketen verkauft worden seien als in den Jahren zuvor - und forderte die Menschen auf, vorsichtig damit umzugehen. "Jetzt wo unser Land wieder aufmacht, wollen die Amerikaner den Fourth of July begehen und ihren Patriotismus gemeinsam mit Freunden und Familien feiern", sagte Steve Houser, Präsident der National Fireworks Association.
Nach Patriotismus aber ist vielen Menschen in dem Land, das sonst so gerne seine Größe, Stärke und Einzigartigkeit betont und in dem die Nationalflagge allgegenwärtig ist, angesichts der dramatischen Zuspitzung der Coronakrise und der Proteste gegen Rassismus und Polizeibrutalität derzeit überhaupt nicht. "Mein ganzes Leben hat man mir immer wieder gesagt, dass ich das Glück habe, im besten Land der Erde aufzuwachsen", sagt eine junge New Yorkerin, die wegen der Coronakrise derzeit bei ihrer Mutter im Nachbarbundesstaat New Jersey wohnt. "Jetzt schaue ich mich hier um und schäme mich so." Es sei diesmal ein komplett anderer Nationalfeiertag als in den Jahren zuvor, schrieb die "USA Today": "Es ist eine schwierige Zeit, um Amerika zu feiern".
Christina Horsten/dpa