Cheers! Für viele Engländer hört am Samstag eine monatelange Leidenszeit auf. Denn in der Coronakrise haben sie vor allem eines vermisst: ihr Pub. Nach mehr als drei Monaten ist nun ein Pint nach Feierabend in den urig-gemütlichen Gasthäusern wieder möglich. Doch was viele Briten freut, lässt Polizei, etliche Politiker und Mediziner die Haare zu Berge stehen.
Sie warnen vor Gewalt und Zuständen in Notaufnahmen wie in einem "Zirkus voller betrunkener Clowns". Das Virus könnte sich dadurch auch schneller ausbreiten. Scotland Yard hat vorsichtshalber die Zahl der Einsatzkräfte in der Hauptstadt London für das Wochenende stark erhöht. "Verhalten Sie sich ruhig. Seien Sie sensibel. Passen Sie auf sich und Ihre Familie auf", warnte Polizei-Chefin Cressida Dick.
Öffnung am Wochenende fatal?
Viele hätten es lieber gesehen, wenn die Pubs im größten britischen Landesteil nicht an einem Wochenende öffnen würden. "Wir haben dann mehr Gewalt, Störungen auf Straßen, sexuelle Übergriffe, Vermisste und Verletzte, die möglicherweise medizinische Hilfe benötigen", sagte der Chef des Polizeiverbandes West Yorkshire, Ian Booth, voraus. Er und viele Kollegen hätten daher einen Werktag bevorzugt.
Der Bier- und Pubverband dürfte hingegen froh sein, dass überhaupt wieder etwas aus den Zapfhähnen strömt. Er hatte den Verlust Hunderttausender Arbeitsplätze befürchtet. Schon zuvor ging es der Branche nicht gut. Sie beklagt seit Jahren ein Pub-Sterben vor allem auf dem Land, bedingt unter anderem durch zu hohe Biersteuern. Nun könnten die Besucher allein am ersten Wochenende Schätzungen zufolge 210 Millionen Pfund (etwa 231 Millionen Euro) ausgeben.
Was fasziniert die Menschen so sehr an den Pubs? Viele der Beisln sind jahrhundertealt. Verklebte Schank, alte Holzdielen, biergeschwängerte Luft, Fish und Chips, Burger oder Pies auf der Speisekarte - all das zeichnet ein Pub aus. Der Begriff stammt vom Public House ab, einem der Öffentlichkeit zugänglichen Haus. Klassenunterschiede verschwimmen hier. Gewöhnen müssen sich die Briten an neue Sicherheitsmaßnahmen: Menschentrauben an der Theke soll es nicht mehr geben. Bestellungen werden künftig am Tisch oder per App abgegeben, Kontaktdaten der Besucher vorübergehend gespeichert.
Die Öffnung der altehrwürdigen Pubs ab Samstag gilt nur für England. Denn jeder Landesteil in Großbritannien entscheidet über seine eigenen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Das führt zu so mancher Kuriosität, etwa im Städtchen Saltney. Die eine Hälfte des Ortes liegt in Wales und hat drei Gasthäuser. Die andere Seite gehört schon zu England und verfügt nur über ein einziges Pub: Im "Brewery Arms" dürften sich die Kassen ab Samstag ordentlich füllen.
Längere Liste von Lockerungen
Die Pubs sind nur ein Baustein in einer längeren Liste von Lockerungen, die Premierminister Boris Johnson für den 4. Juli angekündigt hat. So dürfen auch Restaurants, Hotels, Friseure, Kirchen, Museen und Galerien unter Auflagen öffnen. Die Wirtschaft jubelt, viele Briten sind heilfroh über das Angebot, aber etliche Wissenschafter sorgen sich: Sie halten das Bündel von Lockerungen für verfrüht und sehen die Eindämmung der Pandemie in Gefahr.
Die Stadt Leicester könnte ein warnendes Beispiel sein: Hier musste die Regierung kürzlich die Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus wieder verschärfen. Die Fallzahlen waren wieder deutlich gestiegen.
Silvia Kusidlo/dpa