"Die Bedingungen dort sind seit Jahren schrecklich. Aber wenn jetzt noch eine Infektion mit dem Coronavirus dazukommt, bei mehr als 20.000 Menschen im Lager Moria auf Lesbos, das ursprünglich für 3000 Menschen ausgerichtet war, ist es offensichtlich, warum von einer tickenden Zeitbombe die Rede ist. Die Menschen können sich ja noch nicht einmal ordentlich die Hände waschen“, sagt Peter Casaer, der Teamsprecher von „Ärzte ohne Grenzen“ auf Lesbos.
Tickende Zeitbombe
„Wir sehen in ganz Europa die Isolierung und Abschirmung von Risikogruppen vor Covid-19. Aber niemand schert sich um die Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern – dabei befinden wir uns dort auf Boden der EU“, erklärt der 56-Jährige, der seit 1989 in der humanitären Hilfe arbeitet. Er war in vielen Krisengebieten unterwegs, zunächst als humanitärer Helfer, später, um humanitäre Katastrophen zu dokumentieren. Casaer hat auch den Ausbruch der Ebola-Epidemie in Westafrika miterlebt, die er in seinem Dokumentarfilm „Affliction“ festgehalten hat. Aber das Elend, das er aktuell in griechischen Flüchtlingslagern sieht, erschüttert ihn zutiefst.
„Die Menschen in Moria sind schon froh, wenn sie halbwegs Platz haben, um zu schlafen. Es gibt nur eine Toilette für 160 Menschen, sodass die Notdurft oft außerhalb verrichtet werden muss. Manchmal auch einfach in ein Plastiksackerl hinein. Die Zustände sind schrecklich. Es gibt einen kleinen Fluss im Lager Moria, der ist eine einzige Ansammlung von Müll und Plastiksackerln, Flaschen, voll mit der Notdurft der Menschen – weil die Leute nicht wissen, wo sie sonst damit hinsollen. In Moria muss man mit dem Schlimmsten rechnen“, schildert Casaer.
Das größte Risiko haben in der Coronakrise die alten Menschen, aber auch die Kinder, die im Lager in Moria ohnehin „so viel älter sind als anderswo auf der Welt: Sie haben alte Augen, sie sprechen nicht, sie sitzen nur da. Wir leben ja nicht in einer Diktatur, in der es keine Rechte gibt: Wir sind in der EU! Die Demokratie wird in der EU doch sonst auch immer hochgehalten!“ Peter Casaer ist entsetzt.
In den völlig überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln Chios, Samos und Lesbos leben derzeit fast 40.000 Menschen unter schwierigsten humanitären und hygienischen Bedingungen.
Kinder ohne Eltern unterwegs
Etwa 14.000 von ihnen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, rund 2000 davon sind komplett ohne familiäre Begleitung unterwegs. Manche wurden von ihren Eltern getrennt, manche allein losgeschickt, damit wenigstens einer in der Familie Chancen auf ein besseres Leben hat.
„Die Gesundheitsversorgung in den Flüchtlingslagern in Griechenland ist seit Jahren absolut unzureichend“, schildert auch der Deutsch-Amerikaner Florian Hasel, der als Jurist für „Equal Rights Beyond Borders“ seit Februar in Athen arbeitet, derzeit wie die meisten im Homeoffice.
„Wir hatten schon letzten Herbst den dringenden Appell des UN-Flüchtlingshochkommissariats wegen der katastrophalen Zustände, die Menschen aus den Lagern zu evakuieren. Passiert ist nichts. Denn man hat sich an den Ausnahmezustand in den Lagern gewöhnt, und jetzt kommt die Coronakrise dazu: Wie kann man sich überhaupt noch eine Verschlimmerung vorstellen, wenn die Situation davor schon untragbar war?“, fragt er.
„In Chios leben momentan mehr als 5000 Menschen in einem Lager, das für maximal 2000 ausgelegt ist. Egal, in welches Flüchtlingscamp auf den griechischen Inseln man schaut, die Zustände sind überall eine Katastrophe. In einem Camp auf der Insel Kos gibt es nicht einmal genug Wasser zum Trinken, geschweige denn zum Händewaschen“, erklärt Florian Hasel.
Und die Furcht vor dem Coronavirus wächst. Im Flüchtlingslager Vial auf Chios entlud sich am Wochenende die Wut der Migranten nach dem Tod einer Frau, die mit Fieber in ein Krankenhaus eingeliefert worden war. Auch wenn Covid-19 bei der 47-Jährigen nicht nachgewiesen wurde, steigerte sich der Protest, und die Polizei musste mit Tränengas und Wasserwerfern einschreiten.
"Wir brauchen Europa, um zu überleben"
Migranten des Lagers Moria auf Lesbos haben sich kürzlich in einem Schreiben an die führenden Politiker Europas gewandt: „Wir brauchen Europa, um zu überleben. Das Coronavirus bedeutet für Alte, Kranke und andere Schutzbedürftige im Lager das Todesurteil.“ In dem Text, der von den Initiativen „Moria Corona Awareness Team“ und „Moria White Helmets“ stellvertretend für die Asylsuchenden verfasst und im Berliner „Tagesspiegel“ veröffentlicht wurde, bitten die Geflüchteten, die besonders schutzbedürftigen Gruppen sofort aus dem Lager und in Sicherheit zu bringen: Alte, Kranke und unbegleitete Minderjährige.
„Wir begannen, unser Leben im Elend zu organisieren. Wir versuchten, unsere Würde zu schützen. Aber wir können nicht gegen ein Virus kämpfen ohne minimale Hygienestandards und Möglichkeiten, uns zu schützen“, heißt es in dem Text weiter.
Deutschland hat am Wochenende knapp 50 unbegleitete Minderjährige aus Griechenland übernommen, auch andere EU-Länder wollen nachziehen und ein paar Dutzend aufnehmen. Doch in den überfüllten Camps auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos harren 40.000 Menschen aus. Aus Furcht vor Corona stehen die griechischen Flüchtlingslager derzeit unter Quarantäne. In zwei Camps auf dem Festland wurden bisher Infektionen registriert.
„Was soll ich meinen Kindern sagen? Ich hätte nie gedacht, dass es in Europa so schrecklich ist“, beklagte sich ein Mann, der mit Frau und Kindern in Moria lebt, bei „,Ärzte ohne Grenzen“-Mitarbeiter Casaer, der resümiert: „Und wir akzeptieren es mehr und mehr, dass das eben so ist.“