Guayaquil in Ecuador rückte zuletzt in den Fokus der internationalen Medien. Polizei und Militär hätten hunderte Leichen aus Häusern in der besonders von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Stadt geholt, war etwa zu lesen. Die Bevölkerung des südamerikanischen Landes sei aber lange über das Ausmaß der Katastrophe im Unklaren gelassen worden, klagt der in Ecuador lebende Steirer Erich Preiss.
Der 55-Jährige lebt seit rund 30 Jahren in Lateinamerika und bietet Reisen und Touren auf dem Subkontinent an. Seit einigen Jahren ist er in der Provinzstadt Daule, rund 50 Kilometer von Guayaquil entfernt, zuhause. Derzeit ist er vor allem in Heimquarantäne. Und bekommt dort die Gräuel zumindest medial hautnah mit. So habe sogar der Koordinator der Regierungs-Task-Force Jorge Wated berichtet, dass allein seine Einsatztruppen über 1.800 Verstorbene aus Häusern geborgen hätten.
Zudem habe selbst Wated am Donnerstag davon gesprochen, dass in der ersten Aprilhälfte in der am stärksten von Covid-19 betroffenen Provinz Guayas mit rund vier Millionen Einwohner insgesamt über 6.700 Menschen ("an verschiedenen Ursachen") gestorben seien. Das wären aber um über 5.700 Tote mehr als in einem üblichen Durchschnittsmonat der vergangenen Jahre. Offiziell gab es bis Mitte April in dem 17 Millionen Einwohner zählenden lateinamerikanischen Staat über 8.200 bestätigte Infektionsfälle (mehr als 830 davon sind in Spitalsbehandlung) und etwas mehr als 400 bestätigte Tote und 600 mutmaßliche Covid-19-Todesopfer.
Vor allem die offiziellen Totenzahlen, die vom ecuadorianischen Gesundheitsministerium präsentiert würden, seien ganz offensichtlich "lächerlich", meint Preiss und beruft sich auch auf kritische NGOs und Experten. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. "Wenn man das auf den gesamten Zeitraum seit Beginn der Pandemie Anfang März und auf das gesamte Staatsgebiet Ecuadors hochrechnet, dürfte die Zahl der Todesopfer wohl bald bei 10.000 liegen", erklärt der seit den 1990er-Jahren in Ecuador beheimatete Österreicher.
Eine Zahl, die auch die selbst an Covid-19 erkrankte Bürgermeistern in von Guayaquil, die christlich-soziale ehemalige Präsidentschaftskandidatin Cynthia Viteri bereits vor einer Woche in den Mund nahm. "Es sind 10.000 Tote durch diese Pandemie zu erwarten", erklärte sie. Diese Aussage Viteris bezog sich zwar auf eine Infektionskurve, die sich mittlerweile etwas abgeflacht hat, dennoch bleibt Erich Preiss skeptisch.
Auch aus der eigenen Erfahrung heraus, lange im Dunkeln gelassen worden zu sein. Als Ecuadors Präsident Lenin Moreno vor mehr als einem Monat eine komplette Grenzschließung angeordnet hatte, seien er und seine Frau Noemi von der Entscheidung im Regenwald von Guatemala überrascht worden, schildert Preiss seine Erlebnisse gegenüber der APA. Sie mussten eine mühsame Rückreise über Panamá und Peru mit stundenlangen Wartezeiten an den Grenzen antreten.
Als sie dann endlich wieder in der kleinen Kantonshauptstadt Daule angekommen waren, "konnten wir immer noch nicht ganz verstehen, was nun wirklich vorging", erzählt Preiss. Es stellten sich Fragen wie: "Wie konnte es sein, dass ein Land, das offiziell gerade einmal zwei Corona-Todesfälle zu beklagen hatte, praktisch über Nacht seine Grenzen schließt und sogleich auch eine landesweite und zeitlich ausgedehnte Ausgangssperre verhängt?" Zudem sei plötzlich die gesamte Provinz Guayas, deren Hauptstadt Guayaquil ist, unter Quarantäne und Militärverwaltung gestellt und vom Rest des Landes isoliert worden.
Eines war bald klar: Die Behörden wussten schon lange Zeit mehr, "als man uns an verdaubarer Information zumutete". Denn offiziell sei die Lage lange verharmlost worden. Auch von den regierungsnahen Medien. Doch zeigte sich auf Social Media bald, dass die Situation verheerend war. "Man hörte von überfüllten Krankenhäusern. Auf Facebook kursierten Videos von Toten, die in Särgen oder Plastiksäcken auf öffentlichen Straßen abgestellt worden waren. Ärzte und Krankenschwestern reklamierten, dass sie 'ohne Waffen in den Krieg' geschickt wurden. " Lange seien solche Berichte von staatlicher Seite aber als "Fake News" diskreditiert worden.
Auch jetzt noch "irrt die Regierung führungslos durch die Coronakrise", meint Erich Preiss. "Präsident Lenin Moreno meldet sich selten zu Wort." Sein junger Vize-Präsident Otto Sonnenholzner (37), nutze dieses Szenario als Tribüne für einen inoffiziellen Vorwahlkampf. "Auf seinem persönlichen Facebook-Account wird er stets äußerst vorteilhaft und überhöht in heroischer Pose an vorderster Front kämpfend dargestellt. " In der Bevölkerung werde er auch schon scherzhaft "Otto Selfieholzner" genannt.
Eines macht dem Reiseunternehmer aber ganz besonders Sorgen: Seine Wahlheimat steuere auf die schlimmste Wirtschaftskrise der letzten 100 Jahre zu, meint der gebürtige Steirer. "Es wird dieses Land viel härter treffen, als die meisten anderen Volkswirtschaften." Dabei befürchtet auch der Internationale Währungsfonds (IWF) für ganz Lateinamerika ein "verlorenes Jahrzehnt". Die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie in Verbindung mit anderen Problemen würden dazu führen, dass dort in den zehn Jahren von 2015 bis 2025 wahrscheinlich kein Wachstum verzeichnet werde, hieß es am Donnerstag.
In Ecuador werde zudem ein von der Regierung vorgelegtes Wirtschaftsprogramm, wo sowohl größere Firmen und die meisten Arbeitnehmer erhebliche Beiträge leisten sollen, um die ärmsten Bevölkerungsgruppen und Mikrounternehmer zu schützen, von den meisten Experten als "völlig ungeeignet" eingestuft, weiß Erich Preiss. In der Nationalversammlung dürfte Lenin Moreno - an sich kam er 2017 als Kandidat der Linkspartei "Alianza País" an die Macht, betreibt seither Kritikern zufolge eher eine neoliberale Politik für eine schmale Wirtschaftselite - dafür wohl keine Mehrheit zu bekommen, glaubt er. Auch die bedeutende Indigenen-Konföderation CONAIE lehne das Programm ab und fordere sogar eine Aussetzung des Schuldendienstes.
Der Präsident versuche aber von allen Defiziten abzulenken: "Er macht für die extrem angespannte wirtschaftliche Situation des Landes weiterhin seinen Vorgänger Rafael Correa verantwortlich, dessen Vizepräsident er sechs Jahre lang war." Der in Belgien lebende Correa und weitere 18 ehemalige Regierungsmitglieder und Unternehmer wurden am 7. April, inmitten der Coronakrise und in Abwesenheit wegen Bestechung zu langen Haftstrafen verurteilt. Der offensichtlich politisch motivierte Prozess und insbesondere die Beweisführung hätten heftige internationale Kritik hervorgerufen, berichtet Preis. Das Ablenkmanöver sei aber gelungen.
Es gebe noch viel zu erzählen über die ecuadorianische Art der Krisenbewältigung, meint Erich Preiss. "Über das unsägliche menschliche Leid der Opfer und deren Angehörigen, über den Kampf der Ärzte und Krankenpfleger gegen das Virus und die staatliche Willkür, über die unheimliche Profilierungssucht der Politiker und die unverschämte Korruption und Preistreiberei von Beamten und Geschäftemachern, über die komplexe politische und wirtschaftliche Lage des Landes..." Und dennoch sei Ecuador längst sein Zuhause: "Ich bin glücklich, dass wir noch rechtzeitig wieder einreisen konnten."
Edgar Schütz/APA