Vier Wochen ist es her, meine Frau wurde gerade 40. Am Wochenende stand die große Feier am Programm. Das Zusammentreffen der ganzen Familien und der vielen Freunde ist bei uns stets der wahre Grund zum Feiern, der runde Geburtstag wäre der willkommene Anlass gewesen. Die beste Freundin der Jubilarin wollte aus Paris anreisen, die Geschwister aus ganz Österreich, die Eltern aus Graz. Im selben Tempo, in dem das Fest näher rückte, brach damals Corona über uns herein: China, Italien, Tirol.
Heiligenblut wurde am Tag der geplanten Feier unter Quarantäne gestellt, zu diesem Zeitpunkt war die große Party bereits abgesagt. Bevor am Montag die Maßnahmen der Regierung in Kraft treten sollten, setzte sich der engste Kreis der Familie am Samstag noch zusammen. „Eben die, die sich sonst auch sehen“, also meine Eltern und meine drei Schwestern mit ihren Familien. Ja, so sieht der engste Kreis einer Großfamilie aus. Ohne Händeschütteln, ohne Küssen und mit Sicherheitsabstand zu den Familienältesten stießen wir auf das Geburtstagskind an. Thema war natürlich auch Corona, eigentlich eher noch die bevorstehenden Maßnahmen als das Virus selbst. Dass zu dem Zeitpunkt bereits jemand von uns infiziert war, diese Überlegung schien noch so weit weg wie China – oder zumindest Italien.
Die Ereignisse überschlugen sich
So wie sich die Ereignisse auf der ganzen Welt überschlugen, so turbulent sollten auch für uns die nächsten Tage und Wochen werden. Mit den Maßnahmen am Montag schränkte sich auch der Kontakt mit den in der Nähe wohnenden Angehörigen ein. So erfuhren wir erst nach und nach von einem Schnupfen, von Gliederschmerzen, von etwas Fieber. Dann in den eigenen vier Wänden: Ich war der erste mit Kopfschmerzen, Halskratzen und etwas Husten. Die Kopfschmerzen schrieben wir dem Föhn zu, auch meine Frau litt etwas darunter. Dann die drei Kinder: leichtes Fieber, leichter Husten, jeweils nur einen Tag. Meine Wehwehchen hielten sich etwas hartnäckiger, trotzdem machten wir uns noch nicht viele Gedanken. Bis zur ersten Hiobsbotschaft: Ein Verwandter wurde immer schwächer und musste ins Krankenhaus, dort gleich der Test auf Covid-19, einige Stunden später das positive Ergebnis. China, Italien, Tirol, Heiligenblut – all das schien mit einem Schlag so nahe.
Nachrichten, Bilder und Meldungen der letzten Tage liefen in Dauerschleife und Zeitrafferdurch unsere Köpfe. Wir überlegten auch nicht lange und meldeten uns bei der Corona-Hotline. Weniger aus Sorge um uns selbst, wir waren ja bereits alle wieder mehr oder weniger genesen, als vielmehr wegen der Gefahr der Ansteckung anderer. Von den Kindern versuchten wir die Aufregung fernzuhalten, zumindest bis zum nächsten Morgen. Denn da mussten wir sie auf die Probennahme einschwören. Nicht, dass der Abstrich im Rachenraum so schmerzhaft wäre, aber auf die Umstände der Entnahme sollten Kinder vorbereitet sein. Wenn dann nämlich die Rettung vorfährt, der Fahrer das Prozedere mit fünf Metern Sicherheitsabstand erklärt, die E-Cards im Carport zum kontaktlosen Abfotografieren aufgelegt werden müssen und sich im Hintergrund eine junge Dame in ein Astronautenkostüm wirft, dann endet die Dauerschleife im Kopf – ab jetzt hatten wir unsere eigenen Bilder, in Echtzeit. Mittendrin statt nur dabei. Etwa zur selben Zeit meldete sich zum ersten Mal auch die Behörde und erklärte uns zu Verdachtsfällen.
Der Kühlschrank war voll - immerhin
Meine Frau und ich waren ohnehin schon länger im Homeoffice, der Kühlschrank war voll, die Kinder daheim, der Kontakt zu Familien und Nachbarn beschränkte sich auf kurze Gespräche mit großem Abstand. Die weiteren Einschränkungen waren somit kein großes Thema. Unser Gesundheitszustand schon. Zwei Tage nach dem Test fuhr dann nämlich erstmals die Polizei vor. Zur Erläuterung: Der Kraigerberg ist idyllisch abgelegen, die Siedlungen liegen auf etwa 1000 Meter Seehöhe, die Leute gehen sehr friedlich miteinander um und deshalb kommt der Osterhase hier öfter vorbei als eine Polizeistreife.
Nachdem wir bereits über das positive Testergebnis informiert waren und auch die Zustellung der Bescheide angekündigt war, wurden die Kinder wieder vorbereitet: „So Kinder, und jetzt kommt die Polizei.“ Die Aufregung war abermals groß, auch für uns Erwachsene und sonst unbescholtene Bürger war die Situation nicht alltäglich. Mindestens so riesig war auch die Vorsicht, die Bescheide wurden mit Handschuhen am Boden abgelegt und die Kommunikation erfolgte durch das geschlossene Polizeiauto über das Telefon. Das Vertrauen und das Verständnis der Beamten waren aber enorm: „Das ist meine private Handynummer, wenn ihr was braucht, dann meldet euch, wenn ihr niemanden zum Einkaufen habt, dann organisieren wir euch was.“
Ähnlich ging es auch anderen Familienmitgliedern, denn schließlich waren wir ja nicht die einzigen Betroffenen. In Summe 13 positiv Getestete, zehn davon leben in unmittelbarer Umgebung. Die Stimmung innerhalb der Familie war schwer zu beschreiben. Von Ratlosigkeit, über Nervosität, Sorge, bis hin zur Verzweiflung. Wir hatten ja nichts Illegales gemacht, waren für damalige Verhältnisse und für unser Dafürhalten auch nicht unvorsichtig. War es diese Nähe, die unsere Familie ausmachte, die uns jetzt zum Verhängnis wurde?
Ablenkung durch Alltäglichkeiten
Die Arbeit im Homeoffice sorgte für Ablenkung. Die Ordnung der sonst so streng geführten Videokonferenzen musste jedoch adaptiert werden. Zum Einstieg gab es jetzt immer fünf Minuten Corona-Update aus dem Hause Raunig. Ein Planungsmeeting musste ich zwischenzeitlich verlassen, „die Polizei steht vor der Tür, ich muss zum täglichen Rapport“. Die Reaktion einer jungen Kollegin auf meine Infektion war ungewöhnlich, die bleibt in Erinnerung: „Wow, du bist dann ein Superheld.“ Zwei Wochen später weiß ich, dass man sich auch mit Antikörpern nicht unbesiegbar fühlt. In dem Moment war es aber eine erfrischende Sicht auf die Situation.
Die Aufregung im ländlichen Idyll war ob der Präsenz von Einsatzfahrzeugen dementsprechend. Nachbarn, Bekannte, Freunde und Verwandte meldeten sich und erkundigten sich, was passiert sei. Viele erzählten weiter, was sie gehört hatten, was nicht immer den Tatsachen entsprach. Ein Artikel in einer anderen Tageszeitung konnte noch abgewendet werden – da recherchierte man hinsichtlich einer illegalen Corona-Party. Ja, solche Falschmeldungen waren ärgerlich, unsere ganze Aufmerksamkeit galt aber dem Gesundheitszustand der Familie. Mittlerweile war ein zweiter Angehöriger im Krankenhaus, eingeliefert wegen Kurzatmigkeit. Neben dem Virus wurde auch eine Lungenentzündung diagnostiziert. Er ist keine 50 und hatte keine Vorerkrankungen.
Der ständige Gedanke an die Eltern
Und dann war da natürlich der ständige Gedanke an die Eltern, beide haben Vorerkrankungen und zählen zur Gruppe der Risikopatienten. Sie leben in einem Haus mit zwei positiv getesteten Personen, bleiben sie verschont? Sie selbst beschäftigte das nicht wirklich, zumindest ließen sie es sich nicht anmerken. Sicher, sie wurden aufgrund der Ereignisse immer vorsichtiger. Trotzdem sperrten sie sich nicht weg, im Gegenteil. Sie wurden zum kleinen Stückchen Normalität in dieser unwirklichen Zeit, waren jeden Tag lange im Freien, unternahmen ausgiebige Spaziergänge. Vor unsere Haustüre legten sie an den Sonntagen frische Pommes aus der Fritteuse, einen Sack mit gesammeltem Moos für die Osternester, einmal einen Kuchen, frischen Salat und am Gründonnerstag eine Schüssel Brennnesselspinat. Am Palmsonntag sah ich von der Ferne meinen Vater mit dem Palmbuschen um das Haus laufen, „geweiht vom Schönborn – und das im eigenen Wohnzimmer“, rief er mir noch zu.
Das Ende dieses „Protokolls eines Genesenen“ jetzt auf Ostern hinauslaufen zu lassen, ja das hätte was. Das würde dem Ganzen eine gewisse Spiritualität verleihen, die Wiederauferstehung der Resistenten in eine unbeschwerte Corona-Zukunft. Das ist es aber leider nicht. Es sind unsere persönlichen Erlebnisse mit dem Virus, eine Kurzfassung einer vierwöchigen Achterbahnfahrt der Gefühle. Es sind einige reale Erlebnisse in einer skurrilen Wirklichkeit. Es soll zeigen, wie wichtig die getroffenen Maßnahmen sind, niemand von uns will sich vorstellen, wie viele und welche Personen wir ohne sie innerhalb kürzester Zeit noch anstecken hätten können. Es ist der Versuch, die Dankbarkeit für die unglaubliche Unterstützung zum Ausdruck zu bringen, die wir durch Freunde, Familie, Nachbarn, Kollegen und Beamte erfahren haben. Es ist auch ein Beweis abseits von Zahlen und Statistiken, ein Beweis dafür, dass dieses Virus nicht per se gefährlich sein muss, doch seine rasche Ausbreitung uns alle mit einer ungeheuren Wucht treffen kann – China, Italien, Tirol, Heiligenblut, und ja: auch jeden von uns.
Rudi Raunig