Historische Berichte über landesweite Epidemien und weltweite Pandemien der näheren und ferneren Vergangenheit: Pocken, HIV, Ebola, Dengue, Influenza kostete Abermillionen Tote. Und nun Corona: Viren gelten gemeinhin als Krankmacher. Betrachtet man jedoch ihr Vorkommen auf der Erde, müsste man eigentlich von Virosphäre sprechen, sagt Experte Günther Witzany.
Was sind Viren überhaupt?
Viren, wie man sie bis heute erforscht hat, bestehen aus einer genetischen Information, die in Nukleinsäuren gespeichert ist (DNA oder RNA), die im Unterschied zu zellulär aufgebauten Lebewesen nur von einem Hüllenprotein umgeben ist und nicht von einer Zellmembran. Es gibt aber auch Viren, die nur aus genetischer Information (bestimmte RNA-Viren) bestehen, ohne Hüllenproteine. Viren infizieren befallen Zellen von Wirtsorganismen und zwingen diese, das Virus zu vermehren. Das betrifft alle zellulären Lebewesen seit Beginn der Evolution, also Einzeller ohne echten Zellkern (Bakterien, Archaeen), Einzeller mit echtem Zellkern und alle Mehrzeller (Pilze, Tiere und Pflanzen). Fast alle Viren sind sehr klein, etwa ein 1000stel bis ein 10.000stel Millimeter groß und damit viel kleiner als Bakterien.
Sind Viren Lebewesen?
Seit Martinus Beijerinck 1898 erstmals ein Virus nachgewiesen hatte (Tabakmosaikvirus) sind etwas mehr als 100 Jahre vergangen und seit damals gibt es einen Streit über deren Herkunft und darüber, ob sie als Lebewesen bezeichnet werden können. Da man bisher keine Viren gefunden hat, die sich selbständig vermehren können, sondern dazu Wirtsorganismen brauchen, meinen die Einen, Viren seien Parasiten, die sich aus ihren Wirtszellen verselbständigt hätten. Andere haben gewichtige Argumente, dass Viren direkt aus der „Ursuppe“ des Lebens, noch vor der Entstehung zellulären Lebens entstanden sind. Dafür spricht, dass in den bisher bekannten Virenarten eine hohe Anzahl von Genen zu finden ist, die sich in überhaupt keinen Lebewesen sonst finden lassen. Das deutet darauf hin, dass virale genetische Sequenzen älter sind. Wenn man sich neuere Techniken, etwa vergleichende Genomanalysen anschaut, ist es möglich virale Abstammungslinien zu erkennen. Dabei stellte sich heraus, dass Teile viraler Genome unterschiedliche Abstammungslinien haben können. Weil Viren genetische Informationen tragen, vermehrungsfähig sind und biologischer Selektion unterliegen bezeichen manche Biologen sie als Lebewesen.
Welche Virenarten gibt es?
Virus bedeutete ursprünglich soviel wie „Gift“ oder auch „Saft“ oder „Schleim“. Heute kennt man etwa 3000 unterschiedliche Virenarten und etwa 30.000 Unterarten. Als einzige – nennen wir sie einmal Bestandteile von – Lebewesen kann ihre genetische Ausstattung alle nur möglichen Ausformungen annehmen. Im Unterschied zu zellulären Lebewesen, deren genetische Information immer in doppelsträngiger DNA vorliegt, kann die virale genetische Information einzel- oder doppelsträngig sein, entweder in DNA oder in RNA. Da man heute davon ausgeht, dass es vor dem zellulär aufgebauten Leben eine Welt der reinen RNA Sequenzen (quasi-spezies) gab, und RNA Viren die einzigen „Lebewesen“ sind, die ihre genetische Information in RNA abspeichern, dürften auch RNA Viren die älteren und DNA Viren erst später entstanden sein. Dazu gibt es noch die Retroviren, das sind RNA Viren die nur aus einem Strang genetischer Information bestehen und die nach der Infektion erst in eine DNA umgeschrieben werden, bevor sie die Wirtszelle zwingen können sie zu vermehren, diese umbringen und die viralen Nachkommen (Virionen) verbreiten.
Was tun Viren?
Da Viren alle zellulären Lebewesen – vom primitivsten Einzeller bis hinauf zum Menschen – befallen und eng mit deren Evolutionsgeschichte verflochten sind, ist ihre Infektionsstrategie sehr zellspezifisch ausgelegt, d.h. Viren sind extrem spezialisiert, wie sie Zellen infizieren und anschließend so manipulieren können, dass diese nur noch virale Nachkommen produzieren. Viren können ihre genetische Information nicht nur verändern, sondern auch neue herstellen und speziell RNA Viren können ihre genetische Information sehr schnell verändern. Das macht sie unglaublich anpassungsfähig und kreativ um gegen Immunsysteme ihrer Wirtsorganismen und auch gegen Medikamente immun zu werden. Bei mehrzelligen Organismen die aus unterschiedlichen zellulären Geweben und Organen bestehen, können Viren auch verwandte Gewebe überall im Körper infizieren wie z.B. Schleimhäute, Hautgewebe, Knorpelgewebe, Fettgewebe, neuronale Gewebe usw. Viren zeigen unterschiedliche Überlebensstrategien, die sich hinsichtlich des Wirtes und dort hinsichtlich der Gewebe, das sie infizieren unterscheiden.
Wo überall gibt es Viren?
Da Viren dauernd und eng mit ihren Wirtsorganismen vorkommen, findet man Viren buchstäblich überall auf diesem Planeten. Seriöse Schätzungen gehen von 10 hoch 30 Viren allein in den Meeren aus – das sind mehr Viren als es Sterne am Himmel gibt - und von 10 hoch 33 Viren auf diesem Planeten. In einem einzigen Tropfen Meerwasser finden wir ungefähr eine Million Bakterien, aber zehn Millionen Viren. Dennoch kommt es praktisch nie zu Infekten, wenn wir im Meerwasser schwimmen. Ihre Dichte in Humusschichten ist ähnlich hoch. Man nimmt an, dass man bisher nur einen Bruchteil von Viren kennt und Viren die „unsichtbare Materie“ der Biologie bilden. Würde man die Viren dieses Planeten alle in einer Reihe auffädeln käme eine Distanz von 40 Millionen Lichtjahren (!) zusammen. In Bakterien finden wir hauptsächlich doppelsträngige DNA-Viren. Man nennt diese Bakterienviren Phagen. Die Hälfte aller Bakterien in den Weltmeeren werden täglich von Phagen umgebracht. Der Grund warum Bakterien dort überhaupt überleben ist ihre hohe Vermehrungsfähigkeit. Ähnliche Virentypen finden sich auch in Algen, fehlen aber bei Pilzen und Pflanzen. Doppelsträngige RNA-Viren befallen hauptsächlich Pilze. Pflanzen hingegen sind hauptsächlich das Ziel einzelsträngige RNA-Viren. Tiere werden von DNA- und RNA-Viren infiziert. Vögel, Amphibien, Reptilien, Fische und Säugetiere werden bevorzugt von Retroviren infiziert.
Welche unterschiedliche Lebensstile der Viren gibt es?
Obwohl bis heute Viren nicht von allen Biologen als Lebewesen akzeptiert sind, haben sie unterschiedliche Lebensstile entwickelt. Die allgemein bekannte Lesart ist, Viren infizieren Zellen, zwingen diese zur Vermehrung der Viren und sterben dann, indem sich die infizierten Zellen auflösen und die viralen Nachkommen (Virionen) in die Umwelt abgeben. Das ist aber nicht der Lebensstil aller Viren. Die meisten Virenarten befallen Wirtsorganismen ohne sie zu töten, sondern richten sich sesshaft in den Zellen, viele in den Genomen manche im Zellplasma der Wirtsorganismen ein. Für viele Viren sind genetische Sequenzen des Wirtes der optimale Lebensraum. Mit der Vermehrung der Wirtsorganismen vermehren sich die Viren gleich mit. Diese endogenen Viren verändern aber auch das gesamte Genom des Wirtsorganismus, verleihen ihm eine andere genetische Identität als ein Wirtsorganismus derselben Art, der nicht „besiedelt“ wurde. Wie man erst kürzlich herausfand, kommunizieren Viren auch miteinander und entscheiden ob sie Zellen tötlich oder nicht-tötlich infizieren. Viren kooperieren auch miteinander als Helfer- oder Satellitenviren um effizienter zu infizieren, oder weil der Helfervirus dem Hauptvirus behilflich ist, gegen das Immunsystem des Wirtsorganismus erfolgreich zu sein. Viren können generell ihre genetische Information nicht nur dem Wirt aufzwingen, sondern untereinander Gensequenzen auszutauschen und zwar quer durch alle Virenarten hindurch. Das können zelluläre Lebewesen nicht oder nur sehr begrenzt (z.B. horizontaler Gentransfer) und dann auch nur mit Hilfe von Viren.
Gibt es nützliche Viren?
Virenepi- und pandemien können massenweise Lebewesen in Flora und Fauna dieses Planeten umbringen. Die Schäden in monokulturaler Pflanzen- und Tierzucht (z.B. Aquakulturen) sind jährlich immens. Dennoch gibt es auch nützliche Aspekte der Viren, vor allen in evolutionsbiologischer Sicht, wie erst in den letzten Jahrzehnten so richtig klar wurde. Die friedlichen, symbiotischen Viren, also die überwiegende Mehrzahl aller Viren, helfen den Wirtsorganismen beim Aufbau ihres Immunsystems. Anpassbare ebenso wie angeborene Immunsysteme, von Bakterien bis hinauf zum Menschen, erwerben durch den Einbau viraler Sequenzen oft nicht nur Immunität gegen den infektiösen Angreifer, sondern gleich auch noch gegenüber dessen Verwandte. Speziell bei Säugetieren hinterlassen z.B. endogene Retroviren Sequenzteile, die vom Wirtsorganismus als hilfreiche Genregulationen in ganz anderen Zusammenhängen eingesetzt werden können.
Darüber hinaus gibt es noch eine fast unüberschaubare Vielzahl an mobilen genetischen Elementen und RNA-Regulatoren die alle von Viren und ähnlichen genetischen Parasiten abstammen, die ihren Wirtsorganismen auf vielfältige Weise die Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen ermöglichen. Denken wir nur an die epigenetischen Markierungen in den Genen, die dafür sorgen was, wann und wie aus dem genetischen Zusammenhang abgelesen wird und sich z.B. eine neue Leber-, Haut- oder Muskelzelle genau dort – zum richtigen Zeitpunkt - neu bildet, in der vorher eine andere abgestorben ist. Epigenetische Markierungen bestimmen auch den zeitlichen Ablauf der einzelnen Entwicklungs- und das Wachstumsschritte eines Organismus. Auch die Evolution des für Säugetiere unverzichtbaren Plazenta-Organs ist nicht zur zufällige Muationen entstanden, sondern geht auf retrovirale Infekte zurück, die der befruchteten Eizelle eine schützende Zellhaut gegen das Immunsystem der Mutter ermöglichten. Die dafür zuständigen endogenen Retroviren werden bei jeder Embryonalbildung abgelesen und aktiviert. Ist das Embryo dann groß genug um sich selbst schützen zu können, wird die Ablesung wieder gestoppt und diese viralen Helfer verschwinden.
Heute weiß man, dass mindestens 50% des menschlichen Erbgutes von Viren abstammt, bei Pflanzen können es bis zu 90% sein. Viren, die nur Bakterien töten, wurden schon in den 1930er Jahren in Georgien und später in Russland kultiviert und bei der Behandlung bakterieller Erkrankungen erfolgreich eingesetzt. Diese Phagentherapie ist nach dem Siegeszug der Antibiotika fast in Vergessenheit geraten. Sie wird gerade jetzt wieder aktuell, angesichts der multiresistenten Bakterien, die sich mit Antibiotika nicht mehr behandeln lassen.
Ist unsere Erde ein Planet der Viren?
Viren sind die erfolgreichsten und zahlreichsten „Lebewesen“ auf dieser Erde. Angesichts ihrer Zahl und Verbreitung kann man sich die planetare Oberfläche als eine Virosphäre vorstellen, in der sich die Anzahl lebender Zellen und Organismen als seltene „Inseln“ ausnehmen. Viren sorgen dafür, dass sich Organismen entwickeln und entfalten, anpassen und verändern können. Jeder Organismus seit Beginn des Lebens vor ca. vier Milliarden Jahren muss sich während der gesamten Lebensspanne ununterbrochen mit einer Unzahl von Viren auseinandersetzen. Viren sind die mit Sicherheit anpassungs- und veränderungsfähigsten „Lebewesen“. Pandemien die nicht voraussagbar sind und auch schreckliches Leid verursachen werden, wird es immer geben und die Wissenschaft wird in ihrem Bestreben, virale Infekte behandeln zu können, immer hinterherhinken. Vernünftige Zukunftsentwürfe in der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, ebenso wie globale zivilisatorische Ziele dürfen dieses Wissen nicht mehr ignorieren und sollten es in den breiten Bildungsprozess auf allen Ebenen integrieren. Und natürlich dürfen wir nie wieder vergessen, dass globaler Personen- und Warenverkehr unvermeidlich auch globale Virenverbreitung bedeuten wird.