Wer das Spektakel in der Luft zufällig vom Boden aus beobachtete, musste sich erst einmal die Augen reiben: Hinter zwei Ultraleichtflugzeugen sah man in mehreren hundert Metern Höhe einen Schwarm großer Vögel. Der Leitvogel war jedoch kein Tier, sondern ein Ultraleichtflieger.
Gans, Ibis, Truthahn, Waldrapp
Die Tiere waren etwa so groß wie Gänse, hatten aber lange, sichelförmige Schnäbel. Es handelte es sich um den vom Aussterben bedrohten Waldrapp, der zur Familie der Ibisse gehört. Heute leben nur noch ein paar hundert Exemplare in Europa – vor allem in Süddeutschland, Österreich, Italien und in Südspanien, wo versucht wird, den Waldrapp wieder anzusiedeln.
43 Tage war der ungewöhnliche Schwarm unterwegs, der am Bodensee gestartet war und in diesen Tagen im südspanischen Andalusien ankam. „Leitvogel“ war der österreichische Verhaltensbiologe und Ultraleicht-Pilot Johannes Fritz, der den Schwarm über die 2300 Kilometer lange Strecke lotste.
Als 'Delikatesse' ausgestorben
Früher war der Waldrapp mit seinem markanten Schnabel und seinem kahlen, rötlichen Kopf in Deutschland, Österreich oder der Schweiz weit verbreitet. „Aber als Delikatesse verspeist und stark bejagt, starb er bereits im 17. Jahrhundert in ganz Mitteleuropa aus“, berichtet die Naturschutzorganisation WWF.
„Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind in der Vergangenheit um diese Jahreszeit tausende Waldrappe nach Andalusien und potenziell nach Marokko migriert“, schreiben Fritz und sein wissenschaftliches Team in einer Mitteilung. Nun, nach Jahrhunderten, sei es mit menschlicher Hilfe erstmals wieder gelungen, die Waldrappe von Mitteleuropa über diese Zugroute in ihr traditionelles Winterquartier zu bringen.
Italien-Route wegen Klimawandel problematisch
Schon seit 20 Jahren führt das europäische Waldrappteam Jungvögel aus dem nördlichen Alpenland in ein südliches Überwinterungsgebiet in Italien. Haben die Vögel einmal ihren Migrationstrieb und ihr Winterquartier entdeckt, kommen viele von ihnen im Frühjahr eigenständig zurück.
Doch neuerdings erwacht der Migrationstrieb durch den klimawandelbedingten Temperaturanstieg und verlängerte Sommer später. Dadurch finden die Vögel nicht mehr die notwendigen Aufwinde, die ihnen über die Alpen nach Italien helfen. Deshalb versucht man nun eine neue Migrationsroute nach Spanien zu etablieren.
Umwege erweitern Horizonte
Die Strecke nach Andalusien, wo es eine frei lebende Waldrappkolonie gibt, ist dreimal länger als in Überwinterungsgebiete in der Toskana. Entsprechend größer ist das Risiko. Gefahren lauern in Strommasten, Jägern und Raubvögeln. Zudem können sich sogar Zugvögel mal verirren. Auch während der geführten Migration kamen drei von ursprünglich 35 in Süddeutschland gestarteten Tieren abhanden.
Am Zielort angekommen, „sind sie auch gleich mit Vögeln der sesshaften andalusischen Population zusammengetroffen“, berichtet das wissenschaftliche Begleitteam erleichtert. „Das war ein großer und bewegender Moment.“
Ralph Schulze