Der beschauliche Wadi-Darna-Fluss verwandelte sich innerhalb von Minuten in eine tödliche Welle, die ein knappes Viertel der Stadt Darna dem Erdboden gleichgemacht hat. Mittlerweile werden allein in der 100.000-Einwohner-Stadt bis zu 20.000 Tote befürchtet. Dies ergebe sich auf Grundlage der Teile der Stadt, die zerstört worden seien, sagte Abdulmenam Al-Ghaithi am Mittwoch dem Sender al-Arabiya. Bisher gingen Regierungsvertreter von über 5.300 Toten in Darna aus. Auf Videos sind ins Meer gespülte Leichen zu sehen, die aufgrund der Wetterbedingungen bislang nicht an Land geholt werden konnten.
Ursprung in den Bergen
Die Flut hatte ihren Ursprung in den Bergen in Darnas Hinterland, wo ein Staudamm brach. Eine weitere kleinere Staustufe am Stadteingang hielt daraufhin nicht mehr stand. Ob die Dämme zuerst übergelaufen waren oder schon davor barsten, ist zur Stunde noch unklar. Bekannt ist: Die Bauwerke waren nie auf solche Regenmengen ausgelegt.
Keine Wartung seit 2002
Der Bürgermeister der Stadt, Ahmed Madroud, gab dem katarischen Fernsehsender "Al Jazeera" gegenüber an, dass die Dämme allerdings auch "seit 2002 nicht gewartet" wurden. Zwar blieb offen, um welche Art der Wartung es sich genau hätte handeln sollen, doch wird klar, dass menschliches Versagen eine Rolle spielen könnte.
Es dürfte sich demnach um ein tödliches Zusammenspiel mehrerer Faktoren handeln. Einerseits wurden die Fassungskapazitäten nicht erweitert oder Rückhaltebecken hinzugefügt, andererseits könnten die Dämme selber in einem derart desolaten Zustand gewesen sein, sodass ein Ausbau nichts genutzt hätte.
"Möge Gott sie strafen"
Dass im vom Bürgerkrieg gebeutelten Libyen Geld nicht in Infrastrukturprojekte investiert wird, macht die Bewohner zunehmend wütend. Imad Khalifa, der seine Schwester sowie deren gesamte Familie durch die Flut verloren hat, sagte gegenüber "Al Jazeera", dass die "Beamten für alle verlorenen Leben verantwortlich" seien, weil "klar gewesen ist, dass die Dämme saniert werden müssen. Warum wurde trotz Warnungen nichts getan?", fragt der Mann rhetorisch und hofft, dass "Gott die Verantwortlichen strafen" möge.
30.000 Menschen obdachlos
Nach den katastrophalen Überschwemmungen in Libyen herrscht unterdessen weiter Ausnahmezustand. Allein in Darna sind mehr als 30.000 Menschen obdachlos geworden, Tausende in anderen Städten, wie die Internationalen Organisation für Migration (IOM) mitteilte. Die Hilfsorganisation Care Libyen teilte mit, bei einem Wasserstand von bis zu zehn Metern sei das Gebiet um Darna völlig zerstört sowie die Kommunikations- und Stromnetze lahmgelegt worden. Der Bürgermeister in Shahat sprach von rund 20.000 Quadratkilometern überfluteter Gebiete. Die betroffenen Regionen wurden zu Katastrophengebieten erklärt.
Ein Sprecher des UN-Generalsekretärs António Guterres in New York sagte, man arbeite mit lokalen, nationalen und internationalen Partnern zusammen, "um den Menschen in den betroffenen Gebieten dringend benötigte humanitäre Hilfe zukommen zu lassen". Ein UN-Team sei an Ort und Stelle. Man kooperiere mit den Behörden, um Bedarf zu ermitteln und laufende Hilfsmaßnahmen zu unterstützen. Neben Darna waren auch andere Städte wie Al-Baida, Al-Marj, Susa und Shahat betroffen. Papst Franziskus hat zum Abschluss der Generalaudienz auf dem Petersplatz der Menschen in Libyen und Marokko gedacht.
Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen in Libyen - eine mit Sitz im Osten, die andere mit Sitz im Westen - um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg friedlich beizulegen, scheiterten bisher. Zahlreiche Konfliktparteien ringen um Einfluss, nachdem Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 gewaltsam gestürzt worden war.
Katastrophe auch politisch bedingt
Laut Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ist die Katastrophe in dem Land auch mit der politischen Situation verknüpft: "Der Grund für das Ausmaß der Katastrophe ist der Bruch dieser zwei Dämme oberhalb von Darna." Jahrelang sei dort nicht ausreichend in die Infrastruktur investiert worden. Der frühere libysche Machthaber Gaddafi habe "die Stadt dafür bestraft, dass in ihr Aufständische die Waffen ergriffen hatten". Zwar sei in den vergangenen Jahren immer etwas Geld geflossen, "aber das ging unter anderem in die Taschen von Milizenführern und Kriegsprofiteuren".
Ölexporte aufgenommen
Libyen hat seine Öl-Exporte wieder aufgenommen. Die staatliche Ölgesellschaft (NOC) berichtete am Mittwoch ein Produktionsvolumen von rund 1,2 Millionen Barrel pro Tag. Die Exporte waren in dem ölreichen Land am Sonntag unterbrochen worden.
Straßen voller Leichen
Neu veröffentlichte Videos zeigen ein minutenlanges Abschreiten schier endloser in Decken gehüllter Toter. Entlang der Bürgersteige in Darna und auf einem Platz stehen entgeisterte Helferinnen und Helfer, Menschen umarmen sich, suchen nach Vermissten. Andere rauchen, sitzen zwischen den Leichen und blicken apathisch ins Leere.
Das Militär ist unterdessen im Dauereinsatz, um weiter nach Überlebenden zu suchen. Die Hoffnung schwindet dabei stündlich, meist werden die Menschen nicht lebend geborgen.
"Sind bereit, umgehend zu unterstützen"
Mehr als 300 Opfer wurden gestern bereits nahe der Stadt in Massengräbern beerdigt. "Erst wurden diejenigen begraben, deren Identität festgestellt wurde", sagte ein Augenzeuge. "Wegen des Stromausfalls und fehlender Plätze für die Leichen wurden die anderen Toten fotografiert und dann begraben, um sie später identifizieren zu können". Unter den Opfern sollen sich ganze Familien befinden, die zusammen beerdigt wurden.
Osama Ali, ein Sprecher der örtlichen Notdienste, berichtete von den schwierigen Bemühungen der Retter. "Es gibt noch eine Straße, die in die Stadt führt, aber die Durchfahrt ist schwierig und gefährlich, da ein Teil der Straße zerstört ist und ein weiterer Einsturz aufgrund der riesigen Wassermengen erwartet wird." Darna liegt 900 Kilometer östlich der libyschen Hauptstadt Tripolis und zählt 100.000 Einwohner. Neben Darna waren auch andere Städte wie Al-Baida, Al-Mardsch, Susa und Schahat betroffen. Der Bürgermeister in Schahat sprach von rund 20.000 Quadratkilometern überfluteter Gebiete.
Zusammenhalt wie 2011
Die betroffenen Regionen wurden zu "Katastrophengebieten" erklärt. Die Regierung in der Hauptstadt Tripolis unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba sprach von den schwersten Regenfällen seit mehr als 40 Jahren. Am Montag wurde dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Die Katastrophe scheint das Bürgerkriegsland zunächst zusammenzuschweißen. "Al Jazeera"-Korrespondent Malik Traina sieht einen Zusammenhalt innerhalb der Bevölkerung, wie seit dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 nicht mehr.
Vielleicht vermag die Katastrophe daher eingerissene Brücken zwischen den Menschen wieder aufzubauen. Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen - eine mit Sitz im Osten, die andere mit Sitz im Westen - um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg friedlich beizulegen, scheiterten bisher. Der Konflikt wird durch ausländische Staaten zusätzlich befeuert. Die staatliche Ordnung ist in dem Land weitgehend zerfallen, zahlreiche Konfliktparteien ringen um Einfluss.