Die Nachricht von VW überraschte. Nein, es ging nicht um jüngste Verkaufszahlen für E-Autos, sondern um eine Frage der kulinarischen Transformation. VW hat im Markenhaus am Stammwerk Wolfsburg die Currywurst wieder im Kantinenangebot. "Dem Wunsch der Belegschaft folgend, bietet das Betriebsrestaurant neben den veganen und vegetarischen Speisen eine zusätzliche Komponente mit Fisch oder Fleisch an", teilte das Unternehmen mit. VW setzt also auf Vielfalt.
Vor zwei Jahren hatte der Autobauer die Currywurst vom Speiseplan gestrichen. Zwar nur in einer der mehr als 30 Kantinen. Dennoch setzte ein Kulturkampf ein. "Wenn ich noch im Aufsichtsrat von VW säße, hätte es so etwas nicht gegeben", ätzte Altkanzler Gerhard Schröder, zu seiner Zeit als Ministerpräsident von Niedersachsen (1990–1998) qua Amt auch Mitglied im Kontrollgremium von VW.
"Hol mir mal 'ne Flasche Bier"
Schröders Spruch "Hol mir mal 'ne Flasche Bier" schaffte es als Lied einst in die Charts. Dem Kanzler der Arbeitsmarktreformen galt das Essen als Beleg der Volksverbundenheit. In Berlin schätzte Schröder den "Grill Royal" in der Friedrichstraße. Auch Filmstars wie Scarlett Johansson, George Clooney und Al Pacino langten dort zu. "Wir geben den Leuten das Gefühl, dass sie willkommen sind, ohne dass wir dafür unterwürfig werden", erklärte einer der Besitzer das Erfolgsrezept. Es ging mehr um die Edelgaststätte als um die Wurst.
Seit Langem erfährt die Currywurst, was auch der Döner kennt: eine schleichende kulinarische Gentrifizierung. "Auch das 'Adlon' führt den Döner seit 2018 in seiner Lounge auf der Karte – neben Currywurst und Wiener Schnitzel", sagt Eberhard Seidel, Autor des Buchs "Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte", der Kleinen Zeitung. Dabei galt die Currywurst einst wie der Döner als traditionelles Arbeiteressen. "Kommste vonne Schicht, wat schönret gibt et nich als wie Currywurst", singt schon Herbert Grönemeyer über die Stimmungslage im Ruhrgebiet.
"Domestizierte Wurst"
Auch wenn Schriftsteller Uwe Timm in seinem Roman "Die Entdeckung der Currywurst" die Gründungsgeschichte nach Hamburg verlegt, erfunden wurde die Currywurst 1949 in Berlin. Wurst (ursprünglich ohne Darm) und selbst gemachtes Ketchup plus Currypulver. Dabei ist es bis heute geblieben. Bei "Konnopke" am Prenzlauer Berg im Osten Berlins und bei "Curry 36", dem Westberliner Nachtschwärmerimbiss in Kreuzberg.
Timm sah die VW-Entscheidung vor zwei Jahren übrigens gelassen. "Bei VW handelt es sich hingegen um ein Kantinengericht und demnach um eine domestizierte Wurst. Das entspricht nicht meiner Vorstellung", erklärte er. Tatsächlich produziert VW nicht nur Autos, sondern seit 1973 in der hauseigenen Metzgerei auch Currywurst. Derzeit rund sieben Millionen Stück im Jahr. 80 Prozent der Ware werden in regionalen Supermärkten verkauft. Von "Symbiose und Wertigkeit, die zu Volkswagen passt", spricht Chefvermarkter Bernd Huneke im Hausmagazin "360°".
Dazu passt, dass VW der Currywurst nie ganz abgeschworen hatte. Nur in der Zentralkantine in Wolfsburg wurde die Speise gestrichen. In allen anderen Betriebsgaststätten lande die Wurst weiter auf dem Tisch. Während der Pandemie wurde sie sogar nach Hause ins Homeoffice geliefert.
Alles prima, also im Transformationsland Deutschland?
Nicht ganz. Das Currywurst-Museum in Berlin ist seit fünf Jahren dicht. Und auch im Kantinenranking fällt das Gericht zurück. Im Betrieb werden Spaghetti bolognese (mit Fleisch, Platz 1) und Cappelletti-Pesto-Pfanne (vegetarisch, Platz 2) bevorzugt. Erst dann folgt die Currywurst.
Vor allem die Boomer-Generation der über 55-Jährigen schätzt demnach den Klassiker. Die jüngere Belegschaft setzt auf vegetarisch oder vegan.
Ganz neu ist die Entwicklung freilich nicht. "Es gibt Würste, die nicht wurstförmig sind", notiert der Kunsthistoriker Wolfger Pöhlmann in seinem Standardwerk "Es geht um die Wurst". Im konkreten Fall geht es um die Erbswurst, eine Masse aus Erbsenmehl, die 1867 vom Konservenfabrikanten Johann Heinrich Grüneberg entwickelt wurde. Übrigens auch ein Berliner. Preußens Armee ließ das Produkt erst sechs Wochen lang an Rekruten testen, um dann das Patent aufzukaufen und 1870/71 in den Deutsch-Französischen Krieg zu ziehen – samt Erbswurst. Das nach dem Sieg ausgerufene Deutsche Kaiserreich fußt also auf veganer Verpflegung.
"Sex und Spaß an Fleischspeisen"
Und selbst der Carnivore Gerhard Schröder bekannte: "Vegetarische Ernährung ist gut, ich selbst mache das phasenweise auch." Die Betonung liegt auf phasenweise. Erwin Seitz, noch ein Kunsthistoriker, gibt aber Entwarnung. In seinem Buch "Die Verfeinerung der Deutschen" liefert er eine kulinarische Kulturgeschichte des Landes und hält fest: "Schon des Öfteren wurde im Laufe der Geschichte die Fleischeslust verdammt. Bestimmte urzeitliche Gewohnheiten stecken zu tief drin im Menschen, als dass er von heute auf morgen davon lassen könnte. Vermutlich werden der Sex sowie der Spaß an Fleischspeisen die menschliche Gattung noch eine Weile beschäftigten." Das Fleisch als Ausdruck von Virilität.
Von Vergaser, Verbrenner und Motorengeräusch war da übrigens nicht die Rede. Aber auch das wird VW auf dem Weg zur Elektromobilität in einer Weise angehen, wie es der Wertigkeit des Hauses entspricht.
Peter Riesbeck (Berlin)