In die schwerste Krise seiner 22-jährigen Geschichte ist der Polizeidienst Nordirlands – der Police Service of Northern Ireland, PSNI – nach der katastrophalen Daten-Enthüllung dieser Woche geraten. Republikanische Terror-Gruppen wie die New IRA und die Continuity IRA sollen sämtlicher Daten habhaft geworden sein und nun gezielte Anschläge planen auf Angehörige des PSNI.
Erste Polizisten mussten bereits fliehen
Berichten irischer Medien zufolge sind einzelne Polizeibeamte mit ihren Familien bereits aus ihren Häusern geflohen, um sich anderswo in der Provinz anzusiedeln. Andere haben, um sich zu schützen, ihren Standort innerhalb der Polizeitruppe gewechselt. Das Polizei-Präsidium sucht derweil vor allem "Spezialisten" des PSNI in Sicherheit zu bringen, die eng mit dem britischen Geheimdienst MI5 zusammen arbeiten – und für die absolute Anonymität immer Voraussetzung ihrer Tätigkeit gewesen ist.
Ausgelöst wurde die Panik im Polizeidienst durch ein "monumentales" Versehen, bei dem die Namen aller 10.000 nordirischen Polizisten und zivilen PSNI-Mitarbeiter samt ihrer Ränge und Aufgabenbereiche für die Dauer von zweieinhalb Stunden ins Internet gestellt worden waren, wodurch sie für jedermann sichtbar wurden. Nach dieser enormen Panne musste Nordirlands Polizeipräsident Simon Byrne einräumen, dass bereits Anfang Juli durch den Diebstahl von Dokumenten aus dem Privatwagen eines Polizisten 200 bis 300 Namen in die Hände Unbekannter gefallen waren.
Diese späte Erklärung verstärkte nur noch das Gefühl des Entsetzens und der Empörung bei den Betroffenen, von denen sich viele jetzt in unmittelbarer Gefahr glauben. Es tue ihm "zutiefst leid", dass es dadurch zu einem ernsten "Vertrauensbruch" im Polizeidienst gekommen sei, meinte Byrne dazu. "Im schlimmsten Falle" könnten Terror-Gruppen nun die Informationen tatsächlich dazu benutzen, uniformierten und nicht-uniformierten PSNI-Mitarbeitern "schweren Schaden zuzufügen", überall in der Provinz.
Immer wieder blutige Unruhen
Seine Mitglieder seien "schockiert, zutiefst bedrückt und letztlich zornig", äußerte sich der Vorsitzende des Polizeibundes der Provinz, Liam Kelly. Viele Beamte hätten all die Jahre über "alles Erdenkliche getan, um ihre Identität zu schützen", und in manchen Fällen nicht einmal Freunden und Bekannten gestanden, dass sie zur Polizei gehörten. Ein anderer Verbandssprecher, Andy George, berichtete, manche Kollegen seien bereits in neue Wohungen umquartiert worden, weil man um ihre Sicherheit fürchten müsse in der neuen Situation.
Grund für die Ängste nordirischer Polizisten ist, dass sie während der blutigen nordirischen Unruhen, der Troubles, immer eine der wichtigsten Zielscheiben für Terror-Angriffe waren. Seinerzeit, als die Polizeitruppe noch Royal Ulster Constabulary (RUC) hieß und fast durchweg protestantisch war, betrachtete die IRA sie als verhasste Repräsentantin der Krone und damit als "legitimes Angriffsziel".
Die wenigen Katholiken, die sich der RUC anzuschließen wagten, kamen dabei als "Verräter" unter ganz besonderen Druck. Insgesamt 302 Polizisten wurden in den Jahren nach 1969 im Zusammenhang mit den Troubles getötet. Zu jener Zeit begannen Angehörige der Polizei jeweils vor Beginn einer Fahrt mit dem Auto routinemäßig unterm Wagen nach Bomben zu suchen.
Polizei sucht nun Alternativrouten
Sie variierten ihre Fahrtrouten und Abfahrtszeiten und schauten sich auch außerhalb der Dienstzeit immer um, um zu sehen, ob ihnen jemand folgte. Viele schliefen mit einer Waffe unterm Kopfkissen. Im Bekanntenkreis gaben sie oft an, in irgendwelchen anderen Berufen zu arbeiten. Uniformen wurden nie an die Wäscheleine gehängt: Sie gingen an "vertrauenswürdige" Wäschereien zur Reinigung.
Mit dem Belfaster Friedensschluss von 1998, den für die IRA auch die Republikaner-Partei Sinn Fein unterzeichnete, und der Abschaffung der Royal Ulster Constabulary drei Jahre später erhofften sich Nordirlands Polizeibeamte bessere Zeiten. Beim neutraler gestalteten Polizeidienst Nordirlands, dem PSNI, sind heute schon fast 30 Prozent der Beschäftigten irisch-katholischer Abstammung. Sinn Fein hat die Polizei voll akzeptiert.
Weil aber einige hundert republikanische Dissidenten ihre bewaffnete "Kampagne" auch nach dem Friedensschluss der großen Parteien fortgesetzt haben, müssen Polizisten beider Konfessionen weiter um ihr Leben fürchten. Mehrere Beamte sind in den letzten Jahren noch durch Schüsse oder Autobomben getötet oder verletzt worden. Im Februar dieses Jahres lauerte eine Gang in der Stadt Omagh dem Chef-Inspektor John Caldwell auf, als der mit einer Jugendgruppe Fußball spielte. Caldwell kam nur knapp mit dem Leben davon und lag wochenlang im Krankenhaus.