Renell war sich des tödlichen Risikos bewusst. Allein, es sollte ihm nicht helfen. "Da draußen sterben Leute", sagte der Teenager aus London in einem Schulvideo über Messergewalt. "Unschuldige werden getötet." Wenige Monate später war Renell tot. Vor seiner Schule wurde der 16-Jährige angegriffen und mit einer Machete getötet. Tatverdächtig ist ebenfalls ein 16-Jähriger.
So schockierend der Fall ist: In Großbritannien ist eine solche Bluttat wie die am Vorabend der Krönung von König Charles III. längst trauriger Alltag. Teenager töten Teenager. Ähnliche Meldungen gibt es gefühlt jede Woche. Am Donnerstag soll das Strafmaß bekannt gegeben werden gegen zwei Jugendliche, die einem 15-Jährigen vor seiner Schule im nordenglischen Huddersfield auflauerten und ihn töteten. Ein 15-Jähriger gestand die Tat, sein 17-jähriger Komplize wurde von einer Jury schuldig gesprochen.
In England, Wales und Nordirland beginnt Strafmündigkeit bei zehn Jahren
Als sicher gilt, dass die Jugendlichen viele Jahre in Haft verbringen müssen. Wer einen Mord begeht, erhält lebenslang. Das Gericht legt lediglich fest, wie viele Jahre die Täter mindestens hinter Gitter müssen. Eine Höchststrafe für Minderjährige gibt es nicht. Zuletzt wurden wiederholt Teenager zu Jugendstrafen von mindestens 16, 18 Jahren verurteilt. Die britische Rechtsprechung ist in den Augen vieler Beobachter zudem eher eine Rachejustiz, als dass eine Rehabilitierung gerade jugendlicher Straftäter im Vordergrund stünde.
Hinzu kommt: In England, Wales und Nordirland beginnt die Strafmündigkeit bereits bei zehn Jahren – so niedrig wie fast nirgendwo sonst auf der Welt. Selbst Kinder können in Großbritannien also zu lebenslanger Haft verurteilt werden. In Österreich sind es, wie von den Vereinten Nationen empfohlen, 14 Jahre. Das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF attestierte dem britischen Justizsystem bereits 2020, es komme seiner Pflicht, die Menschenrechte von Kindern zu schützen und zu wahren, nicht nach.
Die britischen Gefängnisse sind überfüllt
Experten fordern bereits seit längerem, die Strafmündigkeit hochzusetzen - und das gesamte System zu reformieren. "Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Kontakt mit dem Strafjustizsystem ein wirksames Mittel zur Reduzierung der Kriminalität ist", urteilte eine Studie der Local Government Association, des Verbandes der englischen und walisischen Kommunen, im Frühling 2022. Vielmehr sei das System kriminogen - es stifte zu Kriminalität an. Das Risiko einer erneuten Straftat steige. Das liegt auch daran, dass britische Gefängnisse überfüllt sind. Im Juni 2022 saßen fast 90.000 Menschen in Haft.
Der harte Kurs gegen Straftäter scheint gerade bei Jugendlichen wenig zu wirken. Zwar ging Messergewalt nach Angaben des britischen Statistikamts zuletzt um neun Prozent zurück. Aber auch Premierminister Rishi Sunak hat eingeräumt, dass die Regierung handeln müsse.
Pandemie hat Gewalt angeheizt
Die Ursachen für Jugendgewalt, die oft mit Bandenkriegen und Drogenkriminalität einhergeht, sind lange bekannt: Armut, Ungleichheit, hohe Arbeitslosigkeit und zu wenig Jugenddienste. Auch die Pandemie hat die Gewalt angeheizt – so schaukelten sich Streitigkeiten im Internet hoch, und als die Kontrahenten sich erstmals wieder auf der Straße begegneten, zogen sie die Messer.
Die Abgeordnete Stella Creasy von der Oppositionspartei Labour sprach mit Blick auf die jüngsten Bluttaten von einer "Epidemie". Nötig sei mehr als Vorsorge, mehr als präventive Polizeikontrollen von Jugendlichen. Vielmehr müsse sichergestellt werden, dass alle jungen Menschen die notwendige Unterstützung erhielten, die sie benötigen. "Wenn wir das nicht tun, könnten wir am Ende eine verlorene Generation junger Menschen haben, die glauben, ein Messer sei die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben", sagte Creasy.
Benedikt von Imhoff/dpa