Es ist schon wieder was passiert. Mittwochnachts um kurz nach drei Uhr wurden in Moskaus teuerster Wohngegend rund um den Kreml viele Menschen unverhofft aus dem Schlaf gerissen. Ein lauter Knall war zu hören, wenig später noch einer. Auch eine Bekannte von mir, die einige Kilometer vom Kreml entfernt wohnt, wurde von dem Lärm geweckt: „Ich habe sofort in allen Telegram-Kanälen geschaut, ob etwas passiert ist, aber keine Information gefunden.“ Vielleicht war es nur ein Traum, dachte sie sich, und legte sich wieder hin.
Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen
Zwölf Stunden später veröffentlicht der Kreml die Meldung: Zwei Drohnen über dem Kreml abgefangen. Eine gezielte Attacke auf den Präsidentensitz sei es gewesen, behauptet Kremlsprecher Dmitri Peskow, mehr noch: ein versuchtes Attentat auf Wladimir Putin. Der Präsident habe aber in jener Nacht ohnehin nicht in seiner Wohnung im Kreml geschlafen. Als Beweis für die angebliche Attacke soll ein Video herhalten, das im Internet die Runde macht: Die nächtlich beleuchteten Kremlmauern sind darauf zu sehen und die Kuppel des Senatspalasts mit der Russlandflagge. Plötzlich zischt von links ein Objekt ins Bild und explodiert über der Kuppel.
Wer hinter dem angeblichen Angriff steht, lässt sich nicht überprüfen. Wenig überraschend beschuldigt Russland die Ukraine. Kiew bestreitet jede Verwicklung in den Vorfall. Spekulationen, die der staatlich verordneten Sichtweise widersprechen, sind von der Zensur untersagt. Die Nachrichtenmoderatorin im staatlichen TV-Sender Perwy Kanal beschränkt sich darauf, die offizielle Stellungnahme des Kremls im Wortlaut zu verlesen. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.
Dass sich vor der alljährlichen Militärparade am kommenden Dienstag mysteriöse Zwischenfälle auf russischem Gebiet häufen, sorgt für wachsendes Unbehagen in der Bevölkerung: Gleich zweimal entgleisen in den vergangenen Tagen Güterzüge in der Region Brjansk, im Süden des Landes gehen Treibstofflager in Flammen auf, und in den Regionen, die an die Ukraine grenzen, werden überhaupt fast täglich Schäden durch Beschuss gemeldet.
Sprache schafft Wirklichkeit
Interessant ist, wie diese Vorfälle jeweils von Regimevertretern dargestellt werden: Da ist nicht von Beschuss die Rede, sondern von einem Knall. Da handelt es sich nicht um eine Bombe, sondern um einen explosiven Gegenstand. Und wenn, wie vor zwei Wochen, ein russischer Kampfjet versehentlich die russische Grenzstadt Belgorod bombardiert, dann ist das ein unplanmäßiger Munitionsabgang. Sprache schafft Wirklichkeit. Der Gouverneur der Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, beherrscht diese Kunst des verbalen Weichspülens besonders virtuos. Im Volksmund wird er daher bereits scherzhaft Gouverneur Chlopkow genannt – vom russischen Wort für Knall, chlopok.
Vor dem kommenden 9. Mai, an dem in Russland traditionell der Sieg über Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg gefeiert wird, werden die Sicherheitsmaßnahmen drastisch verschärft. In Moskau ist deutlich mehr Polizei auf den Straßen zu sehen. In etlichen Grenzregionen wurden die lokalen Militärparaden abgesagt, aus Angst vor „Provokationen“, wie es heißt. Der landesweite Gedenkmarsch zu Ehren der Kriegsgefallenen, das sogenannte „Unsterbliche Regiment“, findet ebenfalls nicht statt. Üblicherweise gehen dabei Menschen mit Bildern ihrer gefallenen Verwandten auf die Straße – wohlgemerkt den Opfern des Zweiten Weltkriegs.
Doch egal, ob es um die vergangenen oder die aktuellen Gefallenen geht – das Thema Verluste bleibt in Russland hochsensibel. Seit acht Monaten hat das Moskauer Verteidigungsministerium keine Zahlen mehr zu getöteten oder verletzten Soldaten veröffentlicht. Verheimlichen, verschweigen, verdrängen – so geht die sonst so selbstbewusste Militärmacht mit Verlusten in den eigenen Reihen um.
Paul Krisai (Moskau)