Dieser sei "Opfer von beleidigenden und haltlosen Anschuldigungen", sagte Franziskus vor den auf dem Petersplatz versammelten Gläubigen. Er bezog sich dabei auf Äußerungen von Pietro Orlandi, Bruder der 1983 verschwundenen 15-jährigen Emanuela Orlandi.
"In der Gewissheit, die Gefühle der Gläubigen in der ganzen Welt zu deuten, richte ich einen Gedanken des Dankes an den heiligen Johannes Paul II., der in diesen Tagen Gegenstand von beleidigenden und unbegründeten Anschuldigungen ist", sagte Franziskus.
Pietro Orlandi hatte am Dienstag den vatikanischen Staatsanwalt Alessandro Diddi getroffen, um über den Fall seiner vor 40 Jahren auf mysteriöse Weise verschwundenen Schwester zu sprechen. Nach dem Gespräch hatte Pietro Orlandi im Interview mit dem italienischen Fernsehsender La7 behauptet, dass Johannes Paul II. nachts mit älteren polnischen Geistlichen den Vatikan verließ. Er unterstellte dem polnischen Papst damit Kindesmissbrauch. Er bezog sich dabei auf Aussagen eines Mitglieds einer römischen Kriminellenbande, die in Orlandis Verschwinden involviert gewesen sei.
"Nicht einmal ein Schatten, nur Anschuldigungen"
"Ich bin überzeugt, dass Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus wissen, was mit meiner Schwester geschehen ist", sagte Pietro Orlandi, der am Dienstag acht Stunden lang mit dem vatikanischen Staatsanwalt über das rätselhafte Verschwinden seiner Schwester gesprochen hatte.
Der Vatikan reagierte kritisch auf Orlandis Worte. "Beweise? Keine. Indizien? Noch weniger. Zeugenaussagen aus dritter oder zweiter Hand? Nicht einmal ein Schatten. Nur anonyme, beschämende Anschuldigungen", heißt es in einem Leitartikel über die angeblichen Enthüllungen über Johannes Paul II. und den Fall Orlandi, die von der vatikanischen Tageszeitung "L'Osservatore romano" (Freitagsausgabe) veröffentlicht wurden.
In dem Leitartikel heißt es, es sei richtig, das Verschwinden der jungen Frau zu untersuchen, aber dies rechtfertige keine Verleumdung. Die Anwältin von Pietro Orlandi, Laura Sgrò, sagte am Freitag, ihr Mandant habe nicht die Absicht gehabt, "Anschuldigungen gegen irgendjemanden zu formulieren". "Orlandi hat nur darum gebeten, dass die Suche nach der Wahrheit in keiner Weise beeinträchtigt werden darf. Es tut ihm leid, dass einige Leute seine Aussagen fehlinterpretiert haben, indem sie einige Dinge daraus abgeleitet haben", sagte die Anwältin.
Eins der größten Rätsel in Italiens Kriminalgeschichte
Die 15-jährige Emanuela Orlandi war am 22. Juni 1983 nicht vom Musikunterricht heimgekehrt. Der Fall gilt als eines der größten Rätsel in der jüngeren italienischen Kriminalgeschichte. Um Orlandis Verschwinden rankten sich immer neue Spekulationen und Verschwörungstheorien, in denen auch der Vatikan eine Rolle spielt. Eine verbreitete Theorie geht davon aus, dass die Tochter eines Vatikan-Mitarbeiters von einer Bande entführt wurde, die den damaligen Chef der Vatikanbank, Paul Marcinkus, erpressen wollte. Unbewiesen ist auch eine andere Theorie, wonach Emanuela entführt wurde, um die Freilassung von Mehmet Ali Agca zu erpressen, der 1981 einen Mordversuch auf Papst Johannes Paul II. unternommen hatte.
Eine im Oktober ausgestrahlte Netflix-Serie untersuchte alle Schritte des damaligen Ermittlungsprozesses, auch dank der zum Teil brisanten Aussagen von Zeugen. Zu ihnen zählt eine damalige Freundin Orlandis, die behauptete, Emanuela habe ihr in einem Gespräch eine Woche vor ihrem Verschwinden berichtet, sie sei von einer "dem Papst sehr nahestehenden Person" sexuell belästigt worden.