Die Schiffsverbindung zwischen dem südenglischen Ort Dover und dem französischen Calais ist eine der wichtigsten Verkehrswege Europas. Unter dem Meer verläuft der 50 Kilometer lange Eurotunnel. Immer wieder gerät die Strecke in den Fokus von Migrationsdebatten, denn viele Flüchtlinge versuchen über Calais nach Großbritannien zu gelangen. Seit dem Brexit werden hier auch viele Folgen des britischen EU-Austritts sichtbar. Letztes Jahr stauten sich vor Dover kilometerweit die "Lorries", wie Lastwägen in Großbritannien genannt werden. Ein häufig genannter Grund für das Verkehrschaos: Eine Website, die nach dem Brexit erforderlich gewordene Dokumente ausstellen sollte, war vorübergehend nicht erreichbar. Auch heuer gab es dort vor Ostern wieder einen Mega-Stau. Noch immer streiten die Briten darüber, inwiefern der Brexit für das Chaos verantwortlich war.
Auch auf der französischen Seite des Kanals sorgt der Brexit immer wieder für Ärger und Unverständnis. Letzten Donnerstag etwa bei einer deutschen Noise-Rock-Band namens Trigger Cut. Sieben Konzerte wollten die drei Männer aus Stuttgart in Großbritannien spielen. In Calais wurden sie dann aber von britischen Grenzbeamten an der Weiterreise gehindert. Der Grund: Sie hätten ein Spezialvisum gebraucht, von dem die Band und die Konzertveranstalter noch nie zuvor gehört hatten. "Wir dachten, wir hätten alle Details unserer Tour extrem gut geplant", schrieben die Musiker auf ihrer Facebook-Seite. "Im Endeffekt war das Prozedere an der britischen Grenze herabwürdigend und traurig", meinten sie enttäuscht. Ihre für sieben Tage geplante Tour musste die Band kurzerhand absagen, bei ihren Fans auf der Insel entschuldigten sie sich.
Maltas Strände statt Royals und Rock'n'Roll
Eine Sprachreise nach England – lange Zeit war das der Traum vieler französischer, deutscher und auch österreichischer Jugendlicher. Der charmante Akzent der Engländer ist verlockend, klingt nach den Eliteunis Oxford und Cambridge. Sie denken bei Großbritannien an idyllische Landschaften à la "Rosemunde Pilcher", "Harry Potter" oder die wilde Jugendkultur Londons. Durch den Brexit sind die Sprachreisen in das Land aber schwieriger geworden und für die Jugendlichen heißt es immer öfter Malta oder Irland statt England oder Schottland. Reisen nach Großbritannien sind mittlerweile kompliziert und sehr teuer geworden. Außerdem brauchen alle Sprachschüler plötzlich einen Reisepass, vor dem Brexit reichte ein Personalausweis. Dazu kommt eine Visapflicht für Schüler aus Drittstaaten. Hat ein Schulkind etwa einen türkischen Pass, muss für dieses eine Kind extra ein Visum beantragt werden oder es muss daheimbleiben.
"Wir fliegen nur noch nach Malta seit dem Brexit, weil Großbritannien zu teuer ist und von der EU nicht mehr gefördert wird", erzählt Christine Schneeflock von der Handelsakademie Weiz. "Früher flogen unsere Schüler relativ oft nach Großbritannien, aber jetzt ist es einfach zu teuer", sagt sie. Für die britischen Sprachschulen ist das schlecht, denn die Zahl der Schulklassen, die nach Großbritannien kommen, ist stark zurückgegangen. Die Coronapandemie versetzte ihnen einen zusätzlichen Dämpfer. Gegenüber 2019 verzeichnete die Organisation "Tourism Alliance" im Jahr 2022 bei den Sprachschülern einen Rückgang von 83 Prozent. Das heißt, acht von zehn Sprachreise-Gruppen, die früher nach Großbritannien gereist wären, fahren jetzt woanders hin.
Wer jedoch dennoch nach Großbritannien reisen will, sollte laut Antonia Praun vom Außenministerium darauf achten, "ob für den Reisezweck ein Visum nötig ist". Außerdem sollte man an die jetzt anfallenden Kosten für Roaming denken: "Bei Reisen in das Vereinigte Königreich sollte vorher in Erfahrung gebracht werden, ob der eigene Mobilanbieter Roaming noch gratis zur Verfügung stellt", rät Praun. In Österreich sollte wiederum bei Online-Bestellungen von britischen Shops darauf geachtet werden, ob der Händler eine Niederlassung in der EU hat, sonst können hohe Zollgebühren anfallen.
Fehlende Lehrer, Chrysanthemen und Kanarienvögel
Nicht nur wir Festland-Europäer tun uns mit dem Brexit schwer, auch die Briten selbst. Seit dem Brexit erreichen uns von den britischen Inseln immer neue Engpässe: Es fehlen Lastwagenfahrer und Erntehelfer, Tankstellen werden nicht mit Sprit versorgt und sogar das Gemüse wird knapp. Auch wenn die Ursachen meistens nicht allein auf den Brexit geschoben werden können, geben einige Entwicklungen auf der Insel Anlass zur Sorge. Ein Mangel an Schnittblumen, macht den Floristen zu schaffen – Chrysanthemen sind mittlerweile doppelt so teuer, auch die Preise für den Prärie-Enzian sind stark gestiegen. Anfang April sorgte der Fall eines schottischen Kanarienvogel-Sammlers Schlagzeilen. Sein Hobby ist wegen des Brexits nicht mehr dasselbe. Wegen der Brexit-Regeln wird nun von ihm verlangt, dass die zierlichen und bunten Vögel auf fünf verschiedene Krankheiten getestet werden, wenn er sie in der EU kauft. Weil der Großteil der europäischen Kanarienvögel-Züchter in den Niederlanden und in Belgien lebt, ist das ein großes Problem. "Um die Vögel auf diese Krankheiten zu testen, muss man einen Abstrich der Schnauze und des Rachens machen. Wenn Sie die Kehle eines Kanarienvogels abwischen, töten Sie ihn. Der Tierarzt könnte also zurückkommen und sagen, dass es keine Krankheit gibt – aber Ihr Vogel wird bis dahin tot sein", erklärte der Vogelzüchter Donald Skinner-Reid dem britischen "Guardian".
Auch kuriose Einladungen an ausländische Arbeitskräfte machen immer wieder die Runde. Vor gut zwei Jahren verschickte die britische Regierung persönliche Briefe: Völlig branchenfremde Arbeitnehmer, etwa wohlhabende Investment-Banker oder Menschen ohne Führerschein, wurden vom britischen Verkehrsministerium gefragt, ob sie nicht eine "tolle Beschäftigungschance" als Lastwagenfahrer wahrnehmen wollten. Dieses Jahr suchen die Briten im Ausland Lehrkräfte für ihre Schulen. In sozialen Medien geistern Anzeigen des britischen Gesundheitsministeriums herum, die Lehrer nach Großbritannien einladen: "Wenn Sie nach England ziehen, um Sprachen oder Physik zu unterrichten, erhalten Sie 10.000 britische Pfund als internationale Umsiedlungszahlung und wir erstatten Ihnen das Visum und die Reisekosten", verspricht die Regierung. Sogar Englischlehrer sind in Großbritannien offenbar Mangelware.
War der Brexit ein Fehler?
Während immer weniger Touristen aus Europa nach Großbritannien reisen wollen, sinkt auch bei den Briten die Brexit-Begeisterung spürbar: Laut einer YouGov-Befragung vom März 2023 sehen mittlerweile über die Hälfte der Briten den Brexit als falsche Entscheidung. Eine andere Untersuchung zeigte, dass mittlerweile zwei Drittel der Briten ein Referendum zum EU-Wiedereintritt unterstützen würden. Zumindest aus österreichischer Sicht war es wesentlich einfacher mit den Briten, als sie sich mit dem Brexit noch nicht völlig auf ihrer Insel abgeschottet haben. Auch manches persönliche Schicksal wäre dann vielleicht anders ausgegangen. Etwa der Fall einer Tirolerin, deren britischer Vater für den Brexit gestimmt hatte. Als ihn seine Tochter darauf aufmerksam machte: "Aber Papa, warum hast du für den Brexit gestimmt, deine Kinder leben doch in der EU?" wurde ihm sein Fehler erst bewusst. Daran hatte er gar nicht gedacht, als er in der Hitze des Gefechts sein Kreuzchen gemacht hatte.
Jana Unterrainer