59 Tote, 80 Überlebende und Dutzende Vermisste ist die Bilanz des Flüchtlingsdramas vor der Küste Kalabriens. Von den Geretteten wurden 21 ins Spital eingeliefert, ein Mann liegt in kritischem Zustand im Krankenhaus. Noch ist unklar, wie viele Menschen sich an Bord des 150 Meter vor dem Strand gesunkenen Fischerbootes befanden, die Behörden gehen von über 150 Menschen aus.

Die Migranten, die sich auf dem schiffbrüchigen Fischerboot befanden, fielen 150 Meter vom Ufer entfernt ins Wasser, als das Boot wahrscheinlich auf einen unter Wasser liegenden Felsen auflief, berichteten ehrenamtliche Helfer von "Ärzte ohne Grenzen" (MSF). Nach Angaben von MSF befanden sich 177 Personen an Bord des Bootes. Bei den Überlebenden handelt es sich fast ausschließlich um Afghanen. "Alle Überlebenden sind verzweifelt, jeder hat einen Angehören verloren", berichteten die Helfer von MSF.

Dramatische Szenen

Die Rettungseinheiten, die nach dem Schiffbruch vor der Küste der süditalienischen Region Kalabrien zum Einsatz kamen, waren mit dramatischen Szenen konfrontiert. "Als wir an der Stelle des Schiffbruchs ankamen, sahen wir überall Leichen treiben. Wir retteten zwei Männer, die einen kleinen Buben über Wasser hielten. Leider war das Kind tot", berichtete Laura De Paoli, eine Ärztin, die die Küstenwache bei der Seenotrettung unterstützt.

"Wir haben die beiden Männer gerettet. Sie sind der Bruder und der Onkel des leblosen Kindes. Wir versuchten, den Buben zu beleben, aber seine Lungen waren voller Wasser. Er war sieben Jahre alt", berichtete De Paoli laut der italienischen Nachrichtenagentur ANSA. Die Ärztin mit langjähriger Erfahrung in der Seenotrettung war an Bord des Patrouillenbootes der Hafenbehörde der Stadt Crotone, das sofort nach dem Schiffbruch eingriff.

"Es herrschte hoher Seegang, es war schwierig, sich zu nähern. Das Boot der Migranten lag bereits in Trümmern am Strand, und um uns herum trieben viele Leichen", berichtete die Ärztin, die bereits bei der Seenotrettung mit verschiedenen humanitären Vereinigungen und NGOs zusammengearbeitet hat. "Ich war bei vielen Seenotrettungen dabei, aber es hatte bisher keine Tote gegeben, dieses Mal war es verheerend", so De Paoli.

Einrichtung eines europäischen Rettungsdienstes gefordert

Der langjährige Arzt auf der Insel Lampedusa und EU-Parlamentarier Pietro Bartolo forderte die Einrichtung eines europäischen Rettungsdienstes im zentralen Mittelmeerraum. "NGOs und ein europäischer Rettungsdienst können den Unterschied zwischen Leben und Tod im Mittelmeer ausmachen", so Bartolo.

Druck auf die EU

Das Unglück löste große Bestürzung in Italien aus. Der italienische Staatschef Sergio Mattarella, forderte "ein starkes Engagement der internationalen Gemeinschaft, um die Ursachen der Migrationsströme zu beseitigen: Kriege, Verfolgung, Terrorismus, Armut und Klimawandel". Die EU müsse "konkrete Verantwortung für die Steuerung des Migrationsphänomens übernehmen, um es den Menschenhändlern zu entziehen".

"Es ist kriminell, ein kaum 20 Meter langes Boot mit bis zu 200 Menschen an Bord bei schlechten Wettervorhersagen in See stechen zu lassen. Es ist unmenschlich, das Leben von Männern, Frauen und Kindern gegen den Preis einer Fahrkarte einzutauschen, die sie in der trügerischen Aussicht auf eine sichere Reise bezahlt haben", kommentierte die italienische Premierministerin Giorgia Meloni. Ihre Regierung setze sich dafür ein, Migrantenabfahrten zu verhindern und die Kooperation mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu stärken. Die "Illusion einer Einwanderung ohne Regeln" müsse bekämpft werden.

Der Chef der ausländerfeindlichen Regierungspartei Lega und Vizepremier Matteo Salvini machte die Schlepper für die Tragödie verantwortlich, die "immer unsicherere und schäbigere Boote ins Meer schicken und dafür Millionen von Dollar kassieren, die in Waffen und Drogen reinvestiert werden". "Den Menschenhändlern das Handwerk zu legen, ist jedermanns moralische Pflicht, vor allem um unschuldiges Leben zu retten", sagte Salvini.

Der italienische Innenminister Matteo Piantedosi sprach von einer "riesigen Tragödie". Jetzt sei es wichtig, die Anstrengungen fortzusetzen, um die Abfahrten von Migranten aus Nordafrika zu stoppen. "Es ist absolut notwendig, das Phänomen der illegalen Einwanderung zu bekämpfen. Skrupellose Menschenhändler sind am Werk, die, um sich zu bereichern, improvisierte Reisen mit seeuntauglichen Booten und unter unzumutbaren Bedingungen organisieren", beklagte der Innenminister.

Der Präsident von Italiens Rotem Kreuz, Rosario Valastro, forderte einen stärkeren Einsatz der Behörden zur Vorbeugung solcher Tragödien. "Unsere Mitarbeiter sind am Werk, um die Überlebenden zu behandeln und die Leichen zu bergen", so Valastro.

Die bei Rettungseinsätzen im Mittelmeer aktiven NGOs zeigten sich ebenfalls bestürzt. "Wieder eine Katastrophe im Mittelmeer: Schmerz und Bestürzung für die Opfer. Männer, Frauen und Kinder. Es ist unerträglich, dass der einzige Weg nach Europa über das Meer führt. Das Fehlen einer europäischen Such- und Rettungsmission ist ein Verbrechen, das sich jeden Tag wiederholt", kommentierte die deutsche NGO SeaWatch.

Auch der Papst ist bestürzt

Der Papst drückte beim Angelus-Gebet seine Bestürzung wegen des Flüchtlingsunglücks vor der Küste Kalabriens aus. Er bete für die Todesopfer, für die Vermissten und die Überlebenden. Er dankte den Rettern und all jenen, die den Überlebenden Unterstützung leisten.

Jedes Jahr versuchen Tausende Migranten auf oft wenig seetauglichen Booten aus Nordafrika nach Italien und damit nach Europa zu gelangen. Immer wieder kommt es auch zu schweren Unglücken. Nach Angaben des italienischen Innenministeriums sind in diesem Jahr bis einschließlich Donnerstag schon 13.067 Migranten auf dem Seeweg ins Land gekommen, weit mehr als doppelt so viele wie im gleichen Vorjahreszeitraum (5.273). Seit 2014 seien 25.800 Menschen bei Seefahrten über das zentrale Mittelmeer ums Leben gekommen, oder vermisst, 120 davon allein 2023, teilte das Kindernetzwerk Unicef mit.

Ein neues Gesetz der rechten Regierung Meloni, das diese Woche vom Parlament verabschiedet wurde, erschwert zudem die Arbeit ziviler Seenotretter. Der Großteil der Migranten gelangt allerdings mit eigenen Schiffen und Booten nach Italien.