WHO-Regionaldirektor Hans Kluge bezeichnete das Beben als schlimmste Naturkatastrophe in der Region sei einem Jahrhundert. Der Bedarf an Hilfe sei riesig und wachse mit jeder Stunde, sagte er am Dienstag bei einer Online-Pressekonferenz.
Rund 26 Millionen Menschen in der Türkei und Syrien bräuchten humanitäre Unterstützung. "Jetzt ist die Zeit für die internationale Gemeinschaft, dieselbe Großzügigkeit zu zeigen, die die Türkei im Laufe der Jahre anderen Nationen weltweit gezeigt hat", sagte er am Dienstag. Das Land beherberge die größte Flüchtlingsbevölkerung der Erde.
Die Hoffnung schwindet
Die Suche nach Überlebenden ging trotz schwindender Hoffnung auch am achten Tag nach dem Beben weiter. In der Südosttürkei wurde Medienberichten zufolge noch vier Menschen lebend unter den Trümmern geborgen. In der Provinz Kahramanmaras hätten Helfer am Dienstagmorgen zwei 17 und 21 Jahre alte Brüder gerettet, berichteten die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi und der Sender CNN Türk. Sie lagen demnach 198 Stunden unter den Trümmern.
In der Provinz Adiyaman wurde demnach ein 18-Jähriger, der ebenfalls 198 Stunden verschüttet war, gerettet. In der Provinz Hatay wurde Anadolu Ajansi zufolge eine 26 Jahre alte Frau sogar nach 201 Stunden unter den Trümmern lebend gerettet, eine 35-Jährige nach 205 Stunden. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben zunächst nicht.
"Wir erleben die schlimmste Naturkatastrophe in der WHO-Region Europa seit einem Jahrhundert", sagte WHO-Direktor Kluge über das Erdbeben, bei dem Zehntausende Menschen ums Leben gekommen sind. Das ganze Ausmaß und die wahren Kosten seien noch immer nicht klar. An die Betroffenen gerichtet betonte er: "Euer Leid ist immens, eure Trauer sitzt tief. Die WHO steht euch in der Stunde der Not – und immer – zur Seite."
Eine Million obdachlos
Schätzungsweise eine Million Menschen hätten in der Türkei ihr Zuhause verloren, etwa 80.000 befänden sich nach Behördenangaben in Krankenhäusern. Dies stelle eine große Belastung für das Gesundheitssystem dar – das selbst durch die Katastrophe schweren Schaden genommen habe.
Kluge forderte alle Beteiligten von der Regierung und der Zivilgesellschaft zur Zusammenarbeit auf, um die grenzüberschreitende Lieferung humanitärer Hilfe zwischen der Türkei und Syrien sowie innerhalb Syriens sicherzustellen. Die WHO zählt insgesamt mehr als 50 Länder zu ihrer Region Europa. Darunter sind neben der EU auch zahlreiche östlich davon gelegene Staaten wie die Türkei sowie mehrere zentralasiatische Länder.
Zur Verbesserung der humanitären Hilfe in Syriens will Präsident Bashar al-Assad Diplomaten zufolge zwei weitere Grenzübergänge in die Türkei öffnen. Bab Al-Salam und Al Ra'ee sollten für drei Monate geöffnet werden, berichtete UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths dem UN-Sicherheitsrat am Montag mehreren Diplomaten zufolge. Griffiths hält sich derzeit in Syrien auf und traf Assad am Montag.
UN-Generalsekretär António Guterres begrüßte die Entscheidung Assads: "Die Öffnung dieser Grenzübergänge – zusammen mit der Erleichterung des humanitären Zugangs, der Beschleunigung der Visagenehmigungen und der Erleichterung des Reisens zwischen den Drehkreuzen – wird es ermöglichen, dass mehr Hilfe schneller eintrifft."
Andreas Knapp, Caritas-Generalsekretär für Auslandshilfe, reiste bereits am Freitag ins Krisengebiet nach Aleppo. "Die Hilfe in Syrien ist angelaufen, aber noch unzureichend", berichtete er im Gespräch mit der APA. Es brauche nun "internationale Solidarität". "Wir können Syrien nicht alleine lassen", appellierte Knapp.
"Das Leid der Menschen ist unbeschreiblich", berichtete der Koordinator für humanitäre Hilfe von Hilfswerk International, Heinz Wegerer, am Dienstag in Wien über die Situation im Krisengebiet. Er kehrte erst am Montag aus der Türkei nach Österreich zurück. "Der Leichengeruch wird immer stärker", sagte der Nothelfer.
Schelle und unkomplizierte Hilfe sei nun dringend notwendig. In den ersten Tagen musste vor allem die lokale Bevölkerung den Großteil der humanitären Hilfe leisten. "Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen die Hilfe aufrechterhalten können und einen langen Atem haben", betonte Wegerer. Bis zu 50 Hilfswerk-Mitarbeiter sollen das in der Türkei sicherstellen. Wegerer berichtete auch von Problemen bei der Nothilfe. Die staatliche Katastrophenschutzbehörde Afad "ist mit der Koordination offensichtlich überfordert".
Am Tag nach dem Erdbeben startete Nachbar in Not einen Spendenaufruf, zeitgleich lief die Hilfe der Organisationen in den beiden Ländern an. Diese konzentriert sich auf das absolut Notwendigste: Notunterkünfte, Wasser, Nahrungsmittel, Matratzen und Decken. Alle acht Nachbarn in Not-Hilfsorganisationen sind mit lokalen Partnerorganisationen in Syrien und der Türkei im Einsatz, hieß es in einer Aussendung am Dienstag.
Das UN-Kinderhilfswerk Unicef warnte unterdessen vor der katastrophalen Lage für Millionen Kinder, die dringend humanitäre Hilfe brauchen. Die Gesamtzahl der betroffenen Buben und Mädchen bleibe unklar, jedoch leben laut Unicef in den zehn von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei 4,6 Millionen Kinder. In Syrien sind mehr als 2,5 Millionen Kinder betroffen.
"Die Kinder und Familien in der Türkei und Syrien stehen nach diesen verheerenden Erdbeben vor unvorstellbaren Schwierigkeiten", sagte Catherine Russell, Unicef-Exekutivdirektorin, am Dienstag. "Wir müssen alles, das in unserer Macht steht, tun, um sicherzustellen, dass alle, die diese Katastrophe überlebt haben, lebensrettende Hilfe erhalten, einschließlich sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, grundlegender Ernährungs- und medizinischer Versorgung sowie psychosozialer Unterstützung für Kinder. Nicht nur jetzt, sondern auch langfristig."
Die Zahl der bestätigten Toten lag bis Dienstagfrüh bei mehr als 37.500, mehr als 80.000 Menschen wurden verletzt.
Langfristige Folgen
Die schweren Beben haben dabei nach Daten von Satelliten womöglich auch langfristige geologische Folgen. "In der Küstenstadt Iskenderun scheint es erhebliche Absenkungen gegeben zu haben, die zu Überschwemmungen geführt haben, während das Beben viele Hügel im ganzen Land einem ernsthaften Erdrutschrisiko ausgesetzt hat", hieß es von der europäischen Raumfahrtagentur ESA. Der Sender NTV hatte in der vergangenen Woche berichtet, dass Gebäude in der türkischen Küstenstadt wegen überfluteter Straßen evakuiert werden mussten.
Am frühen Morgen des 6. Februar hatte das erste Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert, Stunden später folgte ein zweites Beben der Stärke 7,6. Seitdem gab es mehr als 2400 Nachbeben. In der Türkei sind zehn Provinzen betroffen – dort gilt inzwischen ein dreimonatiger Ausnahmezustand. Mehr als hunderttausend Freiwillige reisten in die Erdbebenregion, um zu helfen. Einige von ihnen kehrten mittlerweile in ihre Heimat zurück.
Auf Naturkatastrophen spezialisierte Experten veranschlagen die wirtschaftlichen Schäden des Erdbebens in der Türkei und in Syrien auf mehr als 20 Milliarden Dollar (18,72 Milliarden Euro). Nur ein Bruchteil davon – gut eine Milliarde Dollar – sei aber versichert, hieß es in einer ersten Schätzung der US-Firma Verisk Analytics (früher AIR Worldwide), die am Dienstag veröffentlicht wurde.