Es gibt Augenblicke, in denen sich die ganze Größe und Tragik eines langen Lebens verdichten. Für Joseph Ratzinger war der 28. Februar 2013 so ein Moment. Noch am Vortag hatten sie ihm bei der Generalaudienz zugejubelt. Und nun stieg im milden römischen Abendlicht ein Helikopter von den Vatikanischen Gärten auf und kreiste einmal noch über der Ewigen Stadt, ehe er den zurückgetretenen Papst aus Rom wegbrachte.
Nach einem langen Tag des Abschieds flog ein aller Macht entkleideter alter Mann in Weiß müde und vielleicht auch ein wenig aufgekratzt einer ungewissen Zukunft entgegen, für die es kein Vorbild gab. Nie zuvor in der Neuzeit hatte ein römischer Pontifex einen so kühnen Schritt gewagt. Nie zuvor hatte ein Papst über das offene Eingeständnis seiner Schwäche so eindringlich Zeugnis von seiner inneren Freiheit abgelegt.
Aber nicht einmal im Abgang flogen Benedikt ungeteilt die Herzen zu. Die regennasse Scheibe auf diesem Foto mag ein Sinnbild für die Distanz zwischen dem Wächter der Lehre und vielen Gläubigen sein, die sein Wirken prägte. Es ist eine besonders bittere Ironie, dass die unversöhnlichsten Stimmen aus Deutschland kamen. Als „Panzerkardinal“ haben sie Ratzinger in der Heimat geschmäht. Und tatsächlich schien die brüske Art, wie angesehene Theologen wie der wortgewaltige Hans Küng und der sanfte Eugen Drewermann von Rom gemaßregelt und ins Abseits gedrängt wurden, den Kritikern recht zu geben. Noch so viele Jahre später stellt sich Frage, ob die Kirche nicht besser daran getan hätte, diese kreativen Feuerköpfe gewähren zu lassen, statt sie mit dem Bannstrahl zu belegen.
Ob das gelungen wäre, steht freilich auf einem anderen Blatt. Der offene Konflikt um den deutschen Synodalen Weg legt den Verdacht nahe, dass es sich um ein Zerwürfnis grundlegender Natur über die Gestalt der Kirche handelt. Und so wie sein Vorgänger hat auch Papst Franziskus bereits klar gemacht, dass er weder einen Umbau zur Rätekirche noch die Schaffung eines Gegenlehramtes dulden wird.
Wo das enden wird, ist ungewiss. Letztlich geht es darum, den Kern eines durch das Feuer der Aufklärung gegangenen Christentums über den Zeitenbruch und die mit ihm verbundenen Erosionsprozesse hinweg in die Zukunft zu retten. Dabei schließen Denken und Glauben einander nicht aus. Ihre organische Verbindung ist sogar Voraussetzung, um in dieser Krise überhaupt bestehen zu können, die ja nicht nur eine Krise der Kirche, sondern der ganzen in Unordnung geratenen Welt ist.
Benedikt hat das früher erkannt als andere. Zu keinem Zeitpunkt war er der ängstliche Antimodernist, als der er verschrien wurde. Sein großes Anliegen war es, auf die Schönheit und die Wahrheit hinzuweisen, die in der Überlieferung zu finden sind. Und dieses Streben bleibt über den Tod des scheuen Unbeugsamen hinaus gültig.