Für die Chefin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) war es wie eine vorgezogene Bescherung. „Das ist wie ein Weihnachtswunder“, sagte die Kunsthistorikerin Marion Ackermann kurz vor dem Fest. Grund für die unverhoffte Freude: In Berlin wurden überraschend wertvolle Gegenstände aus dem Kunstschatz des sächsischen Kurfürsten August des Starken übergeben - vom Hutschmuck bis zum Bruststern des polnischen Weißen Adler-Ordens.
Die Pretiosen aus Ackermanns Haus galten als hoffnungslos verloren. Am Morgen des 25. November 2019 hatten Unbekannte zunächst Teile der Stromversorgung für das Dresdner Residenzschloss lahmgelegt, dann Fenster im Erdgeschoss aufgestemmt, im Innern mit einer Axt Vitrinen zertrümmert und Kunstschätze des Hauses Sachsen geraubt. Versicherungssumme der Beute: 113,8 Millionen Euro. Ideeller Wert der Kunstgegenstände: unbezahlbar.
Verantwortliche vor Gericht
Vor dem Dresdner Landgericht müssen sich derzeit sechs Verdächtige für den Coup verantworten. Sie alle haben einen deutschen Pass, sie alle gehören einer Berliner Großfamilie an, der noch weiterer spektakuläre Fälle angelastet werden: etwa der Raub der weltgrößten Goldmünze Big Maple Leaf 2017 aus dem Berliner Pergamonmuseum. Die Diebe hatten die hundert Kilo schwere fast vier Millionen Euro teure Münze damals mit einer Scheibtruhe über die Gleise der vorbeiführenden S-Bahn weggeschafft. Blöd nur, dass sie am nächsten S-Bahnhof gefilmt wurden. Die beiden Täter und ein Hintermann wurden gefasst und zu Haftstrafen verurteilt. Das Gold indes ist vermutlich eingeschmolzen und verschwunden. Auch in Dresden schwante den Fahndern daher Schlimmes.
Verhandlungspause genutzt
Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft nutzte einer der Münzräuber eine Verhandlungspause in Berlin, um in Dresden das Ding zu drehen. Im Fluchtwagen fanden sich DNA-Spuren. Die führten nach Berlin. Der Anwalt eines Verdächtigen übergab jetzt zu einem Teil der Beute. Von einem Deal zwischen Anklage und Verteidigung wird gemunkelt.
Auch sonst steckt der Fall voller Wendungen. Einer der Festgenommenen folgte dem Prozess in Dresden zunächst als Zuhörer. Dann wurde er durch die Aussage eines Angeklagten belastet. Zuletzt wurde in einem Schiffskanal im Berliner Bezirk Neukölln nach weiteren Beweisen getaucht. Mehr mochten die Fahnder nicht sagen.
True Crime im digitalen Zeitalter
Der Fall Grünes Gewölbe überrascht in einer Zeit, in der in München in diesem Jahr der Prozess um den Betrugsskandal des insolventen Finanzdienstleisters Wirecard eröffnete. Auf den Bahamas endete die Flucht des Chefs der Bitcoin-Börse FTX, der Geld aus dem Handel abgezweigt haben soll. Sehr viel New Economy im alten Reich der Kriminalität. In Dresden geht‘s um klassisches kriminelles Handwerk. Analoges True Crime im digitalen Zeitalter.
So liest sich die Akte der Großfamilie wie der Plot zu einer Netflix-Serie. Mal geht es um einen klassischen Bankraub wie 2014 in Berlin, mal um den dreisten Diebstahl der Big Maple Leaf 2017 aus dem Bode-Museum. Es folgen 2021 ein Überfall auf einen Geldtransporter in Berlin (Beute 650.000 Euro) und im gleichen Jahr die Plünderung von rund 600 privaten Bankschließfächern der Hamburger Sparkasse. Geschätzte Beute: 11 Millionen Euro. Der neue Schwerpunkt mag auch damit zusammenhängen, dass sich die Familie eine Auseinandersetzung mit tschetschenischen Banditen liefert, die in Berlin ins Drogengeschäft drängen. Eine heftige Auseinandersetzung gab es unlängst in Neukölln, an einem Schiffskanal.
Neue Businessideen
So sucht auch das kriminelle Geschäft nach neuen Businessideen. Der spektakuläre Coup dient nicht mehr allein dazu, Beute zu machen. Die Beute wird auch zur Verhandlungsmasse. Tipps für die Staatsanwaltschaft gegen geringere Strafen. Eine Absprache mit der Versicherung gegen Geld. Schon wird aus dem kriminellen Coup ein (fast) legaler Deal. Kurze Haftstrafen werden in Kauf genommen.
So wird der Raub selbst zur Kunst. Und auch die Polizei denkt um. Man habe immer gehofft, die Beute zu finden, sagte Dresdens Polizeisprecher Thomas Geithner und gestand: „Jetzt kann ich es aber sagen: Da war natürlich ein bisschen Flunkerei mit dabei.“ Zocken gehört zum Handwerk. Auch bei den Fahndern.
Peter Riesbeck (Berlin)