Als Jun Choi dieser Tage seine Fotos vom Wochenende durchging, bekam er einen Kloß im Hals. Nach kurzem Zögern drückte er an seiner Kamera die Taste mit der Aufschrift: „Alles löschen.“ Hunderte junge Menschen hatte der Fotograf bei den Halloweenfeiern in Seoul abgelichtet. „Die Leute sahen lustig und glücklich aus“, sagt Jun. Ein Graf Dracula war dabei, eine Hexe, ein Superman. Endlich, nach zweieinhalb Jahren Pandemie, konnten sie wieder ausgelassen feiern.
Was Jun Choi den Rest gab, war eine junge Frau, die sich als Engel verkleidet hatte. „Ich sah sie in meinen Aufnahmen wieder und musste an den Moment des Abends denken, als ich sie auf der Straße fotografierte. Und dann dachte ich an das, was später noch geschah. Vielleicht ist sie jetzt wirklich ein Engel.“ Jun Choi, ein kräftig gebauter junger Mann mit kurzrasierten Haaren und tätowiertem Hals, hat glasige Augen, als er das sagt. „Ich hätte es nicht mit mir vereinbaren können, wenn ich die Fotos behalten und mit dem Leid der Opfer Geld verdient hätte.“
Deswegen ist der Fotograf am Mittwochnachmittag erneut an diesen Ort gekommen, den Jun Choi bis Samstagabend noch als Mittelpunkt des Vergnügens kannte. Nun aber sei er das Sinnbild für eine vermeidbare Tragödie. Mindestens 156 Menschen, überwiegend jungen Alters, kamen inmitten von Halloweenfeiern bei einer Massenpanik im Seouler Partyviertel Itaewon ums Leben. Ein Mangel an Kontrollen, um den enormen Menschenandrang auf den engen Straßen zu verhindern oder zu steuern, gilt seither als wichtigster Grund für das Desaster.
Felix Lill (Seoul)