"Das Klima-Buch", das klingt ein wenig wie "Die Bibel". Und das ist wohl nicht ganz unbeabsichtigt. Die junge schwedische Aktivistin Greta Thunberg, die zur Symbolfigur der weltweiten Bewegung gegen die Untätigkeit der Politik angesichts der Klimakatastrophe geworden ist, hat Wissenschafter unterschiedlichster Disziplinen gebeten, einen aktuellen Lagebericht abzugeben. Über 80 Beiträge sind so zusammengekommen - ein beeindruckendes Kompendium.
"Die Klima- und Ökologiekrise ist die größte Bedrohung, mit der die Menschheit je konfrontiert war. Ohne Zweifel ist sie das Problem, das unser zukünftiges Alltagsleben prägen wird wie kein anderes." So beginnt Thunberg ihr Vorwort. "Ich bin fest überzeugt, dass wir die schlimmsten Folgen dieser aufkommenden Existenzkrise nur abwenden können, wenn wir eine kritische Masse von Menschen zusammenbringen, die die notwendigen Veränderungen fordern. Damit das geschieht, müssen wir schnell Bewusstsein schaffen, denn noch immer fehlt es in der breiten Öffentlichkeit an grundlegendem Wissen, das notwendig ist, um die Notlage zu begreifen, in der wir uns befinden. Ich möchte Teil der Bemühungen sein, dies zu ändern."
In dem über 500-seitigen Buch soll die Klima-, Ökologie- und Nachhaltigkeitskrise ganzheitlich behandelt werden. "Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch zu einer Art Nachschlagewerk wird, um diese verschiedenen, eng miteinander verflochtenen Krisen zu verstehen", so Thunberg. "Es behandelt alles, von schmelzenden Eisschelfen und -kappen bis hin zur Wirtschaft, von Fast Fashion bis zum Artensterben, von Pandemien bis zu untergehenden Inseln, von der Waldrodung bis zum Verlust fruchtbarer Böden, von Wasserknappheit bis zur Souveränität indigener Völker, von der zukünftigen Nahrungsmittelproduktion bis zu Kohlenstoffbudgets - und es enthüllt das Handeln der Verantwortlichen und das Versagen derer, die den Bürgerinnen und Bürgern der Welt diese Informationen schon längst hätten vermitteln müssen."
Beeindruckend moderiert
Es ist eine beeindruckende Versammlung von rund hundert Wissenschafterinnen und Wissenschaftern, die ihr Wissen aus den Bereichen Ökologie und Ökonomie, Biologie und Meteorologie, Geophysik und Mathematik, Ozeanographie und Klimatologie, Psychologie und Philosophie darlegen. Thunberg moderiert an, fasst zusammen, leitet über und spitzt zu. Ihre Beiträge sind der Leitfaden durch das dicke, mit Schaubildern und Grafiken anschaulich gemachte Buch, doch dieser Faden ist nicht rot, sondern blau: Thunbergs Aufsätze sind hellblau unterlegt. Die 19-Jährige ist die Leitfigur und wird das Buch am Sonntagabend im Rahmen des London Literature Festivals in einem weltweiten Livestream vorstellen.
"Wie Klima funktioniert"
Das "Klima-Buch" hat den Ehrgeiz, umfassend und anschaulich zu informieren. Daher gibt es erst einmal einen Grundlagen-Teil, der erklärt, "wie Klima funktioniert", wie Mensch und Natur zusammenwirken, welche Rolle welche Gase in der Atmosphäre spielen und wann der Klimawandel eigentlich entdeckt wurde (nämlich bereits Ende des 19. Jahrhunderts, wie der US-Geowissenschafter Michael Oppenheimer beschreibt). Dann geht es aber rasch ans Eingemachte und an die Veränderungen, die überall festzustellen sind. Johan Rockström vom Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung schreibt über Kipppunkte und Rückkopplungsschleifen und sein Institutskollege Stefan Rahmstorf über die Erwärmung der Meere und der Anstieg des Meeresspiegels. Wir erfahren etwas über Dürren und Überschwemmungen, über die Erwärmung der Meere und die Versauerung der Ozeane, über Mikroplastik, den Jetstream und über terrestrische Biodiversität. Der britische Biologe Goulsen (Stumme Erde") erzählt uns etwas über Insekten, der Schwede Örjan Gustafsson, Professor für Biogeochemie in Stockholm, etwas über Permafrost.
"Die Welt hat Fieber!"
Dazwischen erhebt Greta Thunberg immer wieder ihre warnende Stimme: "Es ist viel näher, als wir glauben", schreibt sie, und: "Die Welt hat Fieber!" Mit Fortdauer der Lektüre wird es immer schlimmer. Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), liefert "Gesundheitliche Argumente für ein Handeln gegen den Klimawandel", die Umweltepidemiologin Ana M. Vicedo-Cabrera beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Hitze und Krankheit, der in Berkeley lehrende Ökonom Solomon Hsiang mit "Klimawandel und Ungleichheit". Die Kapitel, die sich damit beschäftigen, "was wir dagegen unternommen haben", beschreiben natürlich eher ein Versagen als ein Handeln. "Wie können wir unser Versagen ungeschehen machen, wenn wir nicht mal zugeben können, dass wir versagt haben?", bringt es Greta Thunberg auf den Punkt. Da geht es um Greenwashing und Geoengineering, um "Die Kosten des Konsumdenkens" und den "Recyclingmythos". Der Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel schreibt über "Wachstumsrücknahme", der weltbekannte indische Autor Amitav Ghosh über "Die Wahrnehmungslücke" und seine kanadische Kollegin Margaret Atwood über "Praktische Utopien".
Die Hoffnung lebt
Das alles droht, einen zu erschlagen. Doch es gibt auch Hoffnung machende Ansätze, "die Klimaapathie zu überwinden", wie es der norwegische Psychologe Per Espen Stoknes nennt, und das Buch nennt in den Schlusskapiteln manche davon. "Sind wir imstande, unser Können, unser Wissen und unsere Technologie für einen Kulturwandel einzusetzen, der uns dazu bewegt, uns rechtzeitig zu verändern, um eine Klima- und Umweltkatastrophe abzuwenden? Dazu sind wir eindeutig in der Lage. Ob wir es auch tun, liegt ganz an uns", schreibt Greta Thunberg. "Der effektivste Weg aus dieser verfahrenen Lage ist, uns weiterzubilden", gibt sie uns mit auf den Weg, der aus der Sackgasse führen soll, in jedem Fall aber ein langer und beschwerlicher werden wird. "Das Klima-Buch" ist dafür tatsächlich eine gute Starthilfe. Und kommt für das Weihnachtsgeschäft gerade recht.
Dabei verdient Thunberg kein Geld mit ihrem Buch, wie sie auf Instagram schrieb. Die Einnahmen fließen laut der 19-Jährigen an wohltätige Zwecke.