Zwei dieser Kipppunkte betreffen den grönländischen Eisschild beziehungsweise den westantarktischen Eisschild. Die Überschreitung der Schwelle könnte zu einer Dynamik führen, die die Eisschilde auch dann weiter abschmelzen lässt, wenn sich die Temperatur auf der Erde nicht weiter erhöht.
Dies berichtet das Team um David Armstrong McKay und Timothy Lenton von der University of Exeter (Großbritannien) in der Fachzeitschrift "Science". Lenton gehört zu den Forschern, die 2008 erstmals Kipppunkte für das Weltklima benannten. Sie definierten Kipppunkte als "eine kritische Schwelle, an der eine winzige Störung den Zustand oder die Entwicklung eines Systems qualitativ verändern kann". Wenn beispielsweise ein Gletscher beim Abschmelzen an Höhe verliert, gerät seine Oberfläche in niedrigere, wärmere Luftschichten, was das Abschmelzen beschleunigt. Jenseits der Kipppunkte können Rückkopplungsprozesse dafür sorgen, dass eine Entwicklung unaufhaltsam wird. Im Fall von Meeresströmungen wie dem Golfstrom können Änderungen enorme Auswirkungen auf das Klima haben.
Plus 1,5 Grad im Jahr 2030
Seit 2008 sind mehr als 200 Studien zum Thema "Kipppunkte" erschienen. Armstrong McKay, Lenton und Kollegen haben sie sorgsam studiert und auf der Basis ein aktualisiertes Modell der Klima-Kipppunkte erstellt. Sie ermitteln neun Kipppunkte, die für das weltweite Klima relevant sind, und sieben Kipppunkte, die weitreichende regionale Auswirkungen haben. Die Forscher kommen zu der Einschätzung, dass beim Erreichen einer Erderwärmung von durchschnittlich 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter vier Kipppunkte erreicht werden: beim grönländischen und westantarktischen Eisschild, beim Absterben der tropischen Korallenriffe und beim Tauen des Permafrost-Bodens.
Aufgrund der Entwicklung in den vergangenen Jahren prognostizieren sie, dass die 1,5 Grad bereits im Jahr 2030 Wirklichkeit werden. Wenn alle von Politikern derzeit geplanten Maßnahmen umgesetzt würden, könnte die weltweite Temperatur bis 2100 auf einen Anstieg um 1,95 Grad begrenzt werden. Bisher eingeführte Maßnahmen würden allerdings nur zu einer Begrenzung der Erwärmung auf 2,6 Grad führen. "Damit ist die Erde geradewegs auf Kurs, mehrere gefährliche Schwellenwerte zu überschreiten, die für die Menschen auf der ganzen Welt katastrophale Folgen haben würden", wird Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung in einer Mitteilung seines Instituts zitiert; Rockström ist ein weiterer Mitautor der Studie.
Mit der Annäherung der Erderwärmung an zwei Grad werden weitere Kipppunkte möglich: das Abschmelzen der Gebirgsgletscher außerhalb der Polargebiete sowie das Absterben des borealen Nadelwalds im südlichen Verbreitungsgebiet. Für Europa besonders relevant sind aber die Änderungen beim Golfstrom, der Teil der atlantischen Umwälzzirkulation ist und der in Europa für milde Temperaturen sorgt: Den Forschenden zufolge wird ein Zusammenbrechen eines Golfstromausläufers südlich von Grönland immer wahrscheinlicher, was sich auch auf die gesamte Umwälzzirkulation auswirke. Dass die gesamte atlantische Zirkulation – und damit der Golfstrom – zusammenbrechen könnte, werde jedoch erst bei einer Erderwärmung von mehr als vier Grad wahrscheinlich.
Auch bei den Eisschilden gehen die Forscher von einem Prozess von 2.000 Jahren (westantarktischer Eisschild) oder 10.000 Jahren (grönländischer Eisschild) bis zum völligen Abschmelzen aus. Bei anderen Teilen der Antarktis würden die Kipppunkte erst bei einer Erderwärmung von drei bis sieben Grad erreicht. Sollten jedoch alle polaren Eiskappen abschmelzen, würde sich der weltweite Meeresspiegel um etwa 66 Meter erhöhen. Auch andere Folgen des Klimawandels könnten katastrophale Auswirkungen auf das Leben auf der Erde haben. Deshalb mahnt Rockström: "Um gute Lebensbedingungen auf der Erde zu erhalten, die Menschen vor zunehmenden Extremen zu schützen und stabile Gesellschaften zu ermöglichen, müssen wir alles tun, um das Überschreiten von Kipppunkten zu verhindern – jedes Zehntelgrad zählt."