70 Jahre russische Okkupation, zwei Separationskriege und trotzdem ist der Wille, Teil des Westens zu sein, nicht gebrochen. Georgien feiert heute den Unabhängigkeitstag. Wie wichtig ist dieser Tag für die Georgierinnen?
KETEVAN TSIKHELASHVILI: Dieser Tag hat große Bedeutung. Wir feiern damit die Wiederherstellung unserer Demokratie. Das ist aber keine neue politische Entscheidung, die wir getroffen haben. Schon 1918, also noch vor der sowjetischen Besatzung, schlug Georgien mit der Gründung der ersten demokratischen Republik einen europäischen Weg ein. Es ist daher kein aktuelles politisches Manifest, auch wenn wir uns derzeit um die europäische Integration bemühen: Das Europäisch-Sein liegt in unseren Wurzeln.
Wie groß sehen Sie die Chance, dass die EU Georgien zu einem Vollmitglied macht?
Ich glaube, der Beitritt Georgiens in die Europäische Union wäre eine wichtige Botschaft. Damit würde die EU zeigen, dass sie ihre eigenen Werte nicht aufgibt und sich nicht von Russland durch Panzer, Bomben und Soldaten erpressen lässt. Wir sehen, dass die geografischen Risiken in Europa wachsen, wenn keine entschlossenen Schritte unternommen werden. Ende März haben wir einen Antrag auf die EU-Mitgliedschaft gestellt, Ende Juni erwarten wir eine Antwort der EU.
Die Separatistenregion Südossetien hat für den 17. Juli ein Referendum zur Abspaltung von Georgien und für den Beitritt zur Russischen Föderation angekündigt.
Wenn dieses sogenannte „Referendum“ überhaupt so bezeichnet werden kann.
Wie meinen Sie das?
Um ein Referendum durchführen zu können, bedarf es einer Volksbefragung. Doch wer soll befragt werden, wenn 80 Prozent der Region entvölkert sind und die Menschen im Exil leben, weil sie vertrieben wurden. Sie müssen sich das wie ein militärisches Getto vorstellen. Die Bewegungsfreiheit ist extrem eingeschränkt, es gibt einen Stacheldraht um diese Gebiete, den das russische Militär errichtet hat. Kinder und Jugendliche in Kindergärten und Schulen tragen Militäruniformen, singen und feiern den russischen Nationalfeiertag. Dieses „Referendum“ ist nur eine weitere Provokation Russlands.
Könnte dieses Referendum tatsächlich stattfinden?
Das ist schwer zu sagen. Natürlich ist es alarmierend, weil es gerade jetzt passiert, aber was auch immer geschieht, sei es in Südossetien oder möglicherweise in Abchasien, weder die EU noch andere internationale Gemeinschaften werden diese Forderung anerkennen. Und seien wir uns ehrlich, diese Bestrebung nach Unabhängigkeit würde eine totale Abhängigkeit von Russland bedeuten.
Haben Sie keine Sorge, dass eine Annäherung Georgiens an die EU einen noch größeren Konflikt im Land auslösen könnte?
Das glaube ich nicht, das ist vielleicht etwas, das Russland denkt. Für uns fühlt sich der Ukraine-Krieg längst wie ein Déjà-vu an, 2008 haben wir das Gleiche erlebt. So wie die Ukraine hat auch Georgien für die Freiheit bezahlt, obwohl mehr als 20 Prozent unserer Gebiete noch okkupiert sind.
Was passiert, wenn Putin Georgien doch überfällt?
Dann steht nicht nur Georgiens Sicherheit auf dem Spiel, sondern auch die der EU. Es braucht daher eine klare Botschaft der EU.
Wie groß ist der Anteil in der Bevölkerung, der für den EU-Beitritt ist?
Bis zu 80 Prozent der Georgierinnen wollen in die EU, weil die Alternative etwas ist, was sie definitiv nicht wollen.
Das Interview wurde im Rahmen der Medienakademie beim 8. „Medien. Mittelpunkt Ausseerland“ geführt.
Daniela Breščaković