Frau Amiri, Sie sind 100 Tage nach der Machtübernahme der Taliban alleine nach Afghanistan gereist. Das Leben der Frauen dort hat sich drastisch verändert. Nun haben die Taliban auch noch verkündet, Frauen sollen Burka in der Öffentlichkeit tragen oder "besser gleich zu Hause bleiben". Wie ist die Lage der Afghaninnen?
NATALIE AMIRI: Es ist tragisch, mit ansehen zu müssen, wie Frauen in Afghanistan all ihre Rechte sukzessive verlieren. Die Hoffnung darauf, dass der moderatere Teil der Taliban sich durchsetzen wird, schwindet damit. Die Frauen sind die größten Leidtragenden. Sie haben alles verloren. Sie wurden in die Vormoderne zurückkatapultiert. In einen Zustand, den sie sich nicht in ihren schlimmsten Albträumen haben erträumen lassen. Mädchen dürfen nicht in weiterführende Schulen. Es gibt kein Frauenministerium mehr. Es ist ein verheerender Zustand, denn es sind nicht nur die Taliban. Es ist auch die islamisch konservative Gesellschaft, die den Frauen das selbstbestimmte Leben, das sie bis vor Kurzem noch geführt haben, verwehrt. Früher haben Afghaninnen oft gegen den Willen ihrer Familien studiert und Berufe ergriffen. Jetzt kommen die Väter, die Onkel, Cousins und Brüder und sagen: Du hast dich nicht unseren Traditionen gemäß verhalten. Du kommst jetzt schön nach Hause, gehst an den Herd und wirst nicht mehr arbeiten.

Was macht das mit den Frauen?
Sie sind zu großen Teilen traumatisiert. Sie waren zunächst überrascht, gerieten in eine Schockstarre und haben sich dann erst einmal mit der Flucht beschäftigt. Viele habe ich bei der Evakuierung begleitet. Nachdem die erste Freude darüber, dass man entkommen ist, vorüber ist, setzt oft große Depression ein. Sie sagen: Wir hatten unseren Platz in der Gesellschaft. Jetzt sind wir in Flüchtlingsunterkünften. Sie fühlen sich hilflos, ausgeliefert und machtlos. Aus dieser Machtlosigkeit hat sich aber eine positive Sache entwickelt.

Journalistin Natalie Amiri in Afghanistan
Journalistin Natalie Amiri in Afghanistan © Amiri

Und die wäre?
26 der 86 Parlamentarierinnen, die es in Afghanistan gab, haben in Athen ein Exil-Parlament gegründet, um mit einer Stimme zu sprechen. Es formiert sich langsam Widerstand. Ob die Frauen damit auf die Taliban wirklich Druck ausüben können, bezweifle ich, aber zumindest kommen sie aus ihrem Ohnmachtsgefühl heraus.

Der Ohnmacht folgt also Wut?
Die Frauen wollen sich zur Wehr setzen. Viele sind protestieren gegangen – und wurden verhaftet. Gerade in Ländern, in denen Frauen unterdrückt werden, habe ich enorm starke Frauen erlebt. Sie sagen: Jetzt erst recht. Sie haben keine Angst mehr, ihre Existenz zu verlieren, sie haben sie schon verloren. Man hat die Möglichkeit aufzugeben oder alles zu riskieren.

In Afghanistan und auch im Ukraine-Krieg offenbart sich: Frauen können schnell in den Krisenmodus wechseln.
Frauen werden in Kriegen oft zu Löwinnen. Die ukrainischen Frauen flüchten aus dem Krieg, müssen ihre Männer zurücklassen, tragen ihre Kinder bei sich. Sie verlassen ihr Leben. Das Leben, in dem sie noch vor Kurzem in Kiew Eiskaffee getrunken haben – wie wir. Das ist erschütternd. Wir sehen diese Frauen, und denken: Wow, wie mutig. Aber es sind nicht nur die ukrainischen Frauen, die mutig sind. Es sind auch die afghanischen, die syrischen und die iranischen Frauen. Was sie auf sich nehmen und wie stark sie werden, ist imponierend.

Fällt ihnen ein Beispiel ein?
In Afghanistan habe ich die Menschenrechtsaktivistin Mahbouba Seraj interviewt. Sie hat Kabul nicht verlassen, ist eine unglaubliche Kämpferin und sagt: Wir dürfen das Land nicht den Taliban überlassen, wir müssen kämpfen. Was sollen sie machen mit uns? Wollen sie uns alle köpfen? Wollen sie uns alle wegsperren? Wir sind die Hälfte der Gesellschaft und wir sind nicht mehr die Frauen von vor 20 Jahren.

Afghanistan liegt jetzt im Schatten des Ukraine-Kriegs. Wie fatal ist das?
Ich halte es für sehr gefährlich, dass wir unseren Blick immer nur auf einen Brennpunkt legen und alles andere außer Acht lassen. Unsere europäische Politik ist zu großen Teilen naiv und einfältig, gepaart mit Arroganz: Wir glauben, alles besser zu wissen. Die westliche Hybris wird uns noch zum Verhängnis werden. Teilweise ist dem bereits schon so. Die Taliban nutzen das gerade aus und haben mit Säuberungsaktionen begonnen. Wir brauchen endlich eine klügere Außenpolitik, die Kriege verhindert, anstatt die Scherben aufzukehren.

Dieses Interview entstand im Rahmen der Medienakademie beim 14. Europäischen Mediengipfel in Lech. mediengipfel.at