Ein Leak versetzt die USA in Aufruhr: Der Oberste Gerichtshof der USA könnte laut einem durchgestochenen Urteilsentwurf das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibungen abschaffen.
Die konservative Mehrheit am Supreme Court will demnach das seit fast 50 Jahren geltende Grundsatzurteil "Roe vs. Wade" kippen. Dann könnten zahlreiche Bundesstaaten das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch drastisch einschränken oder ganz streichen – mit Auswirkungen für Millionen von Frauen.
Frage: Was ist "Roe vs. Wade"?
Antwort: Mit dem Grundsatzurteil "Roe vs. Wade" (Roe gegen Wade) aus dem Jahr 1973 wurden Abtreibungen in den USA als verfassungsmäßiges Grundrecht verankert. Der Supreme Court bestätigte dies 1992 in seinem Urteil "Planned Parenthood vs. Casey". Als Richtlinie gilt, dass Schwangerschaftsabbrüche so lange erlaubt sind, bis der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre. Das ist in der Regel etwa ab der 24. Schwangerschaftswoche der Fall. Das ist wohlgemerkt ein deutlich größeres Zeitfenster als in vielen anderen Staaten. In Österreich beispielsweise sind Schwangerschaftsabbrüche nach einer Beratung in den ersten drei Monaten nach Empfängnis straffrei.
Frage: Warum steht das Grundsatzurteil jetzt auf dem Prüfstand?
Antwort: Abtreibungsgegner kämpfen schon seit Jahrzehnten gegen "Roe v. Wade". Konservativ regierte Bundesstaaten haben in den vergangenen Jahren eine Reihe von strengen Abtreibungsgesetzen beschlossen, die offen gegen das Grundsatzurteil verstoßen. Ihr Kalkül: Wenn Klagen gegen die Gesetze eingereicht werden, könnten diese letztlich vor dem Supreme Court landen, der sich dann wieder mit "Roe v. Wade" befassen müsste. Das geschah nun mit einem Gesetz aus dem Südstaat Mississippi, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Weil der Supreme Court in den Amtsjahren des republikanischen Präsidenten Donald Trump weiter nach rechts gerückt ist – inzwischen gehören sechs der neun Verfassungsrichter dem konservativen Lager an – standen die Chancen von Anfang an gut, dass der Gerichtshof "Roe v. Wade" einschränken oder gar ganz kippen könnte.
Frage: Was wären die Auswirkungen?
Antwort: Laut dem nun öffentlich gewordenen Urteilsentwurf will die konservative Gerichtsmehrheit "Roe v. Wade" komplett aufheben. Das würde bedeuten, dass es in den USA kein landesweites Grundrecht auf Abtreibungen mehr gäbe - das Thema ist in keinem Bundesgesetz geregelt. Damit hätten die Bundesstaaten freie Hand, Abtreibungen zu verbieten oder einzuschränken. Schätzungen zufolge dürfte etwa die Hälfte der 50 Bundesstaaten diesen Weg wählen, viele haben entsprechende Gesetze bereits vorbereitet. Das betrifft konservativ regierte Bundesstaaten, während von den Demokraten von Präsident Joe Biden regierte Bundesstaaten am Recht auf Schwangerschaftsabbrüche festhalten werden. Viele Frauen könnten damit künftig gezwungen sein, in andere Bundesstaaten zu reisen, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen wollen.
Frage: Ist die Entscheidung schon in Stein gemeißelt?
Antwort: Nein. Bei dem von der Nachrichtenwebsite "Politico" veröffentlichten Dokument handelt es sich lediglich um einen Entwurf. Solche Texte können bis zur Veröffentlichung eines Urteils noch verändert werden. Erwartet wird das Urteil eigentlich erst für Ende Juni. Viel spekuliert wird deswegen, wer den Entwurf an die Presse durchgestochen hat – und warum. Es ist höchst ungewöhnlich, dass solche internen Dokumente des Supreme Court öffentlich werden. Die einen mutmaßen, dass ein liberaler Richter – oder einer seiner Mitarbeiter – den Entwurf an "Politico" gegeben haben könnte, um öffentliche Empörung zu schaffen und die konservativen Richter damit zu einem Umlenken zu bewegen. Denkbar ist aber auch, dass ein konservativer Richter verantwortlich sein könnte – um andere konservative Kollegen daran zu hindern, einen Rückzieher zu machen und sich doch noch für einen Erhalt von "Roe v. Wade" einzusetzen.
Frage: Was sind die politischen Auswirkungen?
Antwort: Das Abtreibungsrecht ist eines der umstrittensten gesellschaftspolitischen Themen in den USA. Es dürfte nach dem Urteil eine wichtige Rolle im Wahlkampf für die Kongress-Zwischenwahlen im November einnehmen. Bidens auf eine schwere Wahlschlappe zusteuernde Demokraten dürften versuchen, mit einem Kampf für das Abtreibungsrecht Wähler zu mobilisieren. Zugleich könnte es neue Versuche geben, das Recht auf Abtreibungen in einem Bundesgesetz zu verankern. Es gilt aber als nahezu ausgeschlossen, dass es dafür im Kongress die notwendigen Mehrheiten geben wird.