Die Stühle stehen im leeren Klassenzimmer auf den Tischen. An diesem Tag fällt der Unterricht aus, weil die Stadtregierung die Gasrechnung nicht bezahlt hat. Rund 660 Schülerinnen und Schüler der Schule Prekounje in Bihać im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas müssen zu Hause bleiben. Darunter auch der 13-jährige Dorian Vuković.
Daheim gibt es nur wenig Platz zum Lernen, jetzt, wo die Drillinge da sind.

Vor drei Jahren kamen die Geschwister Leona, Luka und Ivan zur Welt. Papa Ante ist seitdem zu Hause, er hatte einen Job in Zagreb und pendelte, so oft er konnte, zu seiner Familie. Mama Emilija ist arbeitslos, jetzt steht die Familie ohne Einkommen da und ist auf Unterstützung angewiesen: „Es ist immer schwer, nach Hilfe zu fragen, doch wenn es um das Wohl der eigenen Kinder geht, steht die Scham hinten an“, sagt die vierfache Mutter.

Bihać: Ein Drittel lebt an der Armutsgrenze

Noch immer, nach bald 30 Jahren der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas, prägt Armut das Landschaftsbild und Leben vieler Menschen. Knapp 61.000 Einwohner hat die Stadt Bihać, etwa ein Drittel davon ist von Armut betroffen. Senad Tutić, Leiter des städtischen Sozialbüros, berichtet von mehr als 800 Anträgen pro Jahr auf finanzielle Unterstützung, andere fragen oft nach Kleidung oder Essen. „Für die drei Kleinen ist es noch leicht, vieles bekommt man geschenkt, aber der Große wächst schnell aus seinen Sachen heraus, da wird es schwieriger“, sagt Mama Emilija.

"Vor dem Krieg war ich optimistischer als jetzt"

Der Grundtenor in der Bevölkerung klingt wie ein Widerhall, der sich auf das Land verbreitet: Schuld für den jahrzehntelangen Stillstanden und die perspektivlose Zukunft tragen die politischen Demagogen. „Vor dem Krieg war ich optimistischer als jetzt“, erzählt Miljenko Aničić, Caritas-Direktor in Banja Luka.

Seit 1990 unterstützt er Hilfsbedürftige in der Region und arbeitet eng mit anderen Hilfsorganisationen zusammen. Die derzeitigen Anspannungen im Land erlebte er zuletzt vor Kriegsausbruch: „Ich empfinde die momentane Situation als eine Art ‘Bosanski Lonac’ (Anm.: Bosnischer Eintopf, nationales Gericht). Ohne nachzudenken, wird alles in einen Topf geworfen und zugedeckt. Von unten kocht es, bis es schließlich übergeht.“

Der russische Einfluss

Auch der Angriff Russlands auf die Ukraine weckt am Balkan schlechte Erinnerungen. Da die Instabilität durch einen möglichen russischen Einfluss auf die Republika Srpska befürchtet wird, beschloss die EU-Mission Eufor 500 zusätzliche Soldaten und Soldatinnen in Bosnien-Herzegowina zu stationieren. 120 kommen aus Österreich. Eine Chance fürs gemeinsame Miteinander gäbe es nur, wenn die ethnischen Mauern fallen, „bis dahin kann Bosnien kein Zuhause sein“, betont Aničić.

Flüchtlingsstrom soll stärker werden

Den Unmut in der Bevölkerung verstärkt hat stattdessen die Flüchtlingswelle 2018. Mehrere Tausend Migranten kamen über die Balkanroute nach Bosnien und erhielten vor Ort Unterstützung von der Europäischen Union und internationalen Hilfsorganisationen. In Bihać stehen nach wie vor zwei Flüchtlingscamps: Borići und Lipa, das nach dem Brand im Dezember 2020 kürzlich wiedereröffnet wurde. Beide Camps werden mit Strom versorgt und verfügen über eine Gesamtkapazität von rund 2000 Menschen.

Das Camp Borići, mitten in der Stadt, beherbergt ausschließlich Familien. Abbas (62) ist aus religionspolitischen Gründen mit seiner Frau und Tochter aus dem Iran geflohen. Der 16-Jährigen gelang die Flucht nach Deutschland, sein Sohn wurde geschnappt und sitzt im Iran fest. Was mit ihm und seiner Frau passiert, weiß er nicht. Fardi (26) wurde in der Türkei aufgrund seiner Herkunft verfolgt. In Lipa ist er – wie viele andere Männer seines Alters – seit zwei Monaten. Zweimal versuchte er vergeblich über die Grenze zu kommen. „The Game“ nennen das die Geflüchteten – es bleibt ein Spiel, wo sie gewinnen oder verlieren können.

Eine Krise als Chance?

Derzeit seien die Kapazitäten der Camps nicht ausgelastet, mit den steigenden Temperaturen erwartet man aber wieder starken Zulauf. Aufgrund der Kämpfe zwischen Russland und der Ukraine, könne sich der Flüchtlingsstrom mehr nach Bosnien verlagern beziehungsweise Geflüchtete, die sich momentan in Bosnien befinden, über offene Grenzübergänge in Rumänien und Ungarn nach Europa gelangen.
Dass ausgerechnet die Flüchtlingskrise zur Chance für viele Menschen in Bosnien-Herzegowina wird, wirkt überraschend.

Allein in Bihać sollen rund 2000 Menschen Arbeit aufgrund der Flüchtlingswelle gefunden haben – von Reinigungskräften über Security bis hin zum Gesundheitspersonal. Für viele ist es der erste richtige Job nach Kriegsende 1995: „Alles, was wir versucht hatten, funktionierte nicht. Ich bin dankbar über die Arbeit“, sagt Katica Šantić, die in der Wäscherei in Borići arbeitet.