Es ist der 3. September 2001, "Labour Day" - ein US-Feiertag. Der traditionell freie Montag wird von vielen Amerikanern für ein verlängertes Familien-Wochenende genutzt. So auch von Louis Arena, der in Long Island zum 50er seines Schwagers eingeladen ist. "Wir hatten eine unglaublich lustige Zeit, wir waren auf dem Boot eines Freundes und feierten", erzählt Sara Jo Padenich, die Nichte von Louis. Seinen eigenen 50. Geburtstag konnte der Feuerwehrmann aus Staten Island nicht mehr feiern, er stirbt rund eine Woche später im Alter von 32 Jahren beim Rettungseinsatz infolge der Terroranschläge des 11. Septembers. Seine beiden Kinder, zu diesem Zeitpunkt zwei und drei Jahre alt, erlebt er ebenso wenig heranwachsen wie den Studienabschluss seiner Nichte Sara Jo. "Das war der Moment, in dem mir als 21-Jährige klar wurde, dass man nie weiß, wann man einen geliebten Menschen zum letzten Mal sieht."
"Der 11. September 2001 war mein allererster Tag auf der Uni und ich machte mich gerade im Bad meines Studentenwohnheims für die erste Vorlesung fertig, als meine Mitbewohnerin zu mir sagte: 'Dein Telefon klingelt ständig.' Am anderen Ende war meine Mutter, sie war völlig außer sich", erinnert sich Sara Jo. Sie habe nicht viel verstanden, was ihre Mutter am Telefon stammelte, aber sie glaubte, den Fernseher einschalten zu müssen. "Ich erinnere mich, wie ich den Fernseher einschalte und sehe, wie das erste Flugzeug in den Turm fliegt." In diesem Moment wusste aber niemand, was los war - möglicherweise ein Unfall? "Wir ahnten nicht, was wirklich geschehen war und wie katastrophal es werden würde."
Weil sie sich an ihrem ersten Tag nicht verspäten wollte, ging "Freshman" Sara Jo zur Universität, wo nach und nach die Studierenden eintrudelten. "Die Leute begannen, darüber zu reden. Dann rollte unser Dozent einen Fernseher herein, schaltete die Nachrichten ein und sagte: 'Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, außer zu verfolgen, was passiert.' Nach und nach fingen alle Telefone im Hörsaal an zu klingeln." Als der erste Turm in sich zusammenstürzte, konnte Sara Jo nicht länger bleiben und eilte gleichzeitig mit anderen Studenten aus dem Hörsaal.
"Alles war wirklich verwirrend. Ich komme aus New York, also habe ich dort viele Verwandte." Plötzlich war klar, dass die Sache weitaus größer war, als sich irgendjemand vorstellen konnte. Telefonat um Telefonat vergewisserte sich Sara Jo, dass es ihren Verwandten und Bekannten gut ging. Ihren Onkel Louis erreichte sie nicht: "Ich wusste, dass er als Ersthelfer wahrscheinlich vor Ort sein würde."
Zurück im Wohnheim saß sie gemeinsam mit ein paar Freunden, die sie in der kurzen Zeit am Campus bereits kennengelernt hatte, stundenlang vor dem Fernseher. Da die meisten Studenten in diesem College aus der Gegend um New York kamen, schien jeder jemanden zu haben, der erreicht werden musste. "In der Zeit darauf unterstützten wir uns gegenseitig." Tage zwischen Hoffnung und Verzweiflung. "Vielleicht ... ist er nicht in diesen Turm gegangen; ist er zu einem Gebäude in der Nähe gelaufen; werden sie ihn finden; geht es ihm gut? Alles, was wir am Ende wussten, war, dass er vor Ort war." Vier Tage später verabschiedete sich die Hoffnung, lediglich die Verzweiflung blieb: Jene Einsatzgruppe, in der ihr Onkel tätig war, war die Erste, die am heutigen Ground Zero eintraf. "Sie gingen alle in den Turm und rannten die Treppen hoch, als die Katastrophe über sie hereinbrach." Louis Arena wurde im Einsatz am 11. September 2001 in den Trümmern des World Trade Centers begraben.
"Da war einfach ein Loch in unserer Skyline"
Daraufhin wurden alle Vorlesungen abgesagt, der Campus geschlossen. Sara Jo machte sich für das Begräbnis auf den Weg nach New York City, doch ihre Heimatstadt erkannte sie nicht wieder. "Schon aus der Ferne sah ich den Rauch, der immer noch aufstieg. Da war einfach ein Loch in unserer Skyline." Die Reise, das Begräbnis, die Trauer - ihre Erinnerungen an diese Zeit gleichen einem Schleier. Anfangs war da viel Wut, wo dann Verwirrung entstand. "Ich glaube nicht, dass man es je überwindet, aber man steht es durch."
Obwohl die Wut ebenso schnell ging, wie sie gekommen war, wird Sarah Jo ebenfalls jenen Tag nie vergessen, an dem Osama bin Laden getötet wurde, "denn er war es, dem man die Schuld gab." Zu dieser Zeit arbeitete sie schon als Volksschullehrerin, wo sie in die fragenden Gesichter der Kinder blickte und versuchte, die Frage zu beantworten: "Warum sind wir so glücklich, dass wir jemanden getötet haben?"
So traumatisch der 11. September 2001 für Sara Jo persönlich und für viele weitere Menschen ist, gab es doch "eine wunderbare Zeit danach, in der Menschen viel freundlicher zueinander waren. Nicht nur Tage danach, sogar noch Jahre später." Plötzlich hatte jeder eine Gemeinsamkeit, ohne es zu planen, nämlich das Durchleben eines Ereignisses, das viel größer war als man selbst. "Ich wünschte, wir könnten in diesen Zustand zurückkehren - ohne ein weiteres katastrophales Ereignis. Es hat uns alle so viel näher zusammengebracht."
Simon Rothschedl