Am Sonntagabend, nachdem die Taliban in Kabul ihren Sieg erklärt hatten, versammelte sich eine kleine Gruppe Demonstranten vor dem Weißen Haus. "Rettet unsere Verbündeten" und "Lang lebe Afghanistan" stand auf den Schildern – ein Appell an den Präsidenten, das Land am Hindukusch nicht widerstandslos preiszugeben. Joe Biden jedoch bekam vom Protest nichts mit.
Er verbrachte das vergangene Wochenende in Camp David.
Ohnehin sprach nichts dafür, dass der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte seine Abzugspläne noch einmal überdenken würde. Biden wollte raus aus Afghanistan – und das schon seit Langem. Zwar hatte er die Invasion noch als Senator unterstützt, doch später änderte sich seine Perspektive.
Dass der Rückzug jedoch so schnell vonstattengehen würde, hatte weniger mit Biden als mit seinem Vorgänger zu tun. Unter Donald Trump verhandelten die USA mit den Taliban über einen Rückzug, legten eine Frist bis Anfang Mai 2021 fest, die Biden nur um wenige Monate verlängerte, um einen geordneten Abzug zu ermöglichen.
Kommentar von Julian Heißler
Angesichts dieses Zeithorizonts hielten die Gotteskrieger sich in den vergangenen Monaten zurück, attackierten US-Truppen kaum noch. Diese brüchige Stabilität wollte die Biden-Administration auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Eine längerfristige Verzögerung der Abzugspläne hätte zu einer Eskalation führen können, bilanziert Außenminister Antony Blinken.
Hinzu kam eine dramatische Fehleinschätzung über die Stärke der afghanischen Sicherheitskräfte. Dass die Taliban das Land innerhalb weniger Tage vollständig einnehmen würden, konnten sich in Washington die wenigsten vorstellen. "Unter keinen Umständen werden Sie sehen, dass Menschen vom Dach der amerikanischen Botschaft ausgeflogen werden", so der Präsident damals in Anlehnung an die hastige Evakuierung von amerikanischem Personal aus Saigon am Ende des Vietnamkriegs. Doch am Wochenende gab es genau diese Bilder.
An einen Kurswechsel wird im Weißen Haus dennoch nicht gedacht. Bidens Team fühlt sich viel mehr bestätigt. Schließlich habe man über 20 Jahre mehr als eine Billion Dollar in das Land gepumpt, allein die afghanischen Streitkräfte mit mehr als 80 Milliarden Dollar unterstützt. Trotzdem brach die Regierung innerhalb von Tagen zusammen. Ein weiteres Jahr, so die Einschätzung in der Administration, hätte an diesem Zustand nichts geändert.
Außerdem stand die amerikanische Öffentlichkeit längst nicht mehr hinter dem Einsatz. In Umfragen vor dem Fall von Kabul hatten sich rund 70 Prozent der Befragten dafür ausgesprochen, das Land schnell zu verlassen. Zwei Jahrzehnte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und ernüchternden Bilanzen der Kriege in Afghanistan und im Irak ist die Lust auf humanitäre Interventionen massiv gesunken.
Und Biden setzt andere Prioritäten. Seine Außenpolitik richtet sich vor allem an der Konkurrenz mit der aufstrebenden Großmacht China aus. Sie ist der Anlass für seine Administration, die Beziehungen zu den traditionellen Verbündeten in Europa und Asien wieder zu stärken, die unter Trump gelitten hatten. Nation Building oder das Verbreiten von Demokratie und Menschenrechten mit militärischen Mitteln sind keine amerikanischen Prioritäten mehr. Doch die chaotischen Szenen aus Kabul dürften den USA im Wettbewerb mit Peking zumindest nicht helfen.