Fangruppen mit Sirenen, Leuchtraketen und Rauschwaden auf dem Bacino di San Marco - schon vor Beginn der EM war die Fußballeuphorie in Venedig unübersehbar.  Nach 19 Jahren schaffte der FC Venezia wieder den Aufstieg in die  Serie A. Das Stadio Penzo mit knapp 7400 Sitzplätzen am Yachthafen auf Sant'Elena neben den Giardini muss dringend aufgemöbelt werden. Doch Bürgermeister Luigi Brugnaro denkt größer. Viel größer. Er will einen  gigantische Sportpalast "für die Metropolregion" auf der Landseite bei Mestre mit Fußball-, Schwimm- und Mehrzweckstadien mitsamt Hotel und Einkaufszentrum.

"Venedig braucht neues Denken"

Der bereits seit 2018 von Brugnaro gepushte Plan löst nach dem Protest gegen die Kreuzfahrtriesen in der Lagune neuen Widerstand aus. Nicht nur, weil der Bürgermeister an  Grundstücken beteiligt sein soll. "Diese Gigantomie wäre eine weitere völlige Fehlentwicklung für Venedig", sagt der Architekt Giovanni Leone. "Fuori le grandi navi della laguna" - weg  mit den großen Schiffen aus der Lagune - steht kämpferisch auf seinem T-Shirt über einem Ozeanriesen mit Haifischzähnen. "Venedig braucht ein neues Denken, ein positives Denken mit nachhaltigen Zielen."

"Stehen an Zeitenwende"
"Stehen an Zeitenwende" © Adolf Winkler

SUMus-Auftakt im Palazzo Grassi

Leone ist einer der lokalen Protagonisten einer neuen Bürgerbewegung "SUMus" in Venedig, die sich vor wenigen Tagen im Palazzo Grassi der Öffentlichkeit mit ihrem Programm und einem Film präsentierte, in welchem Händler und Studentinnen, Künstler und Wissenschaftlerinnen auf den Punkt brachten, was Venedig für sie bedeutet: "Magie...meine Zukunft...Gleichberechtigung...Tradition...eine glückliche Insel...es braucht einen neuen Marco Polo, der alles bereist hat".

Zero-Emission-Küche aus der Lagune

Raffaele Scarpa, der Wirt im Oniga auf dem Campo San Barnaba, hat die Calamaretti mit frittierten Algensprossen serviert und die Linguine integrale in köstlichem Pesto di basilico geschwenkt. "Die Algen und  Basilikum liefern mir zwei Burschen immer frisch von Sant´Erasmo", reicht er das Lob hinaus auf die grüne Insel, in jene abgelegenere Gegend der Lagune, wo Gerhard Roth vorzugsweise seine Charaktere, vor Mördern flüchtend, über den Sinn des Lebens nachdenken lässt. "Wir haben unser Restaurant  mit Produkten aus der Lagune auf Zero-Emission umgestellt", erklärt Scarpa als einer der SUMus-Aktivisten, die in Venedig neuerdings in aller Munde sind. 

"Venedig als Leuchtturm der Welt"

"Wir stehen an einer Zeitenwende. Wir müssen Venedig und die Lagune mit Nachhaltigkeit bewahren. Über 1000 Jahre lebten Menschen und Natur in der Lagune in perfekter Symbiose. Nun muss Venedig neu auf diese Werte ausgerichtet werden - als Leuchtturm für die Welt", sagt Helene Molinari, die Begründerin von SUMus. Für die Bewegung hat sie einen Schulterschluss mit der Università Ca' Foscari und der Università Internazionale Venezia geschafft. "Wir müssen vom Think Tank zum Do Tank kommen", plant man Innovationslabors, in denen  Bürgerinnen und Bürger der Stadt ihre Ideen einbringen können, um die Serenissima in nachhaltige  Ecosysteme zu wandeln - von  ökologischer Landwirtschaft und Fischerei in der Lagune,  neuen Jobs durch hochwertiges Kunsthandwerk, umweltfreundlichem Tourismus bis zu einer Bildungslandschaft für Innovation und Gleichberechtigung. Molinari: "Venedig soll die Welthauptstadt der Nachhaltigkeit werden."

"Venedig lebt - und braucht Hilfe"

In der Pandemie lag Venedig wie im Koma. Nun erwacht es wie ein Komapatient ohne Patientenverfügung. "Venezia è viva - e chiede aiuto" ruft ein Schild über den Fischständen am Mercato di Rialto um Hilfe. Der Menschenandrang hält sich in Grenzen. Kein Schlangestehen auch vor dem prachtvollen Palazzo Grimani zur Ausstellung von Baselitz mit seiner fantastischen Farbinspiration zum Thema Venedig.  Kein Warten vor der Punta della Dogana, um mitten in Bruce Naumans Videoinstallationen hineinzusteigen. Die Besucher sind zurück in Venedig, aber es überwiegen Inländer. Die Piazzetta ist stark belebt, die Gondeln sind leer. Keiner Italienerin, keinem Italiener wäre eine Viertelstunde des Romantik-Klichees 100 Euro wert, erst recht nicht nach Corona.

Die Stadt rinnt aus

Die Corona-Pandemie hat das Ausrinnen der Serenissima beschleunigt. Die Einwohnerzahl der Città sei auf unter 51.000 gesunken, schlug La Nova Venzia in der Vorwoche  auf der Titelseite Alarm. "Es fehlt an leistbaren Wohnungen, obwohl so viele Gebäude leer stehen", ärgert sich Architekt Leone. "Die jungen Leute gehen weg, weil sie  keine so gut bezahlte Arbeit finden, mit der sie sich hier das Leben leisten können", klagt Michele, dessen Familien-Standbad Bagno Marconi am Lido vom heimischen Publikum bereits stark frequentiert ist, während nebenan die Capanne des Excelsior in Doppelreihe noch gähnend leer stehen.  Das Nobelhotel bietet heuer Suiten als Wohnungen an - um 69.000 Euro für die kurze Saison, fronte mare um 129.000 Euro.  Verzweifelter Luxus.

Venedig im Widerstreit

Gegen die zurückgekehrten Kreuzfahrtriesen kam es auch am  vergangenen  Sonntag wieder zu Protesten. Auf zahlreichen Booten verfolgten Demonstranten am Canale della Giudecca an San Marco vorbei die Ausfahrt des Ozeanriesen  MSC Magnifica.  Zeitgleich nahmen die Werftarbeiter in Monfalcone bei Triest den Bau des ersten von vier weiteren Kreuzfahrtriesen in Angriff, die MSC Cruises um zwei Milliarden Euro bei  Fincantieri in Auftrag gegeben hatte. Am derzeitigen Schiffsterminal heißen Transparente die zurückkehrenden Riesen willkommen: "Benvenuti crocieri". Vor Rene Benkos Nobelhotel Bauer demonstrierten jüngst Hafenarbeiter mit Transparenten "Porto = Vita" und  "Porto = Venzia": "Siamo anche Venezia" - wir sind auch Venedig.

Venedig zu Staub

Wie nicht nur die riesigen Schiffe die Lagune belasten, sondern der Massentourismus die Stadt insgesamt, kann man anschaulich auf der Architekturbiennale in den Arsenale erleben. "Venedig zu Staub" heißt eine Installation, bei der Venedig und die Inseln der Lagune mit brüchigem Stein in einen harten Marmorboden eingelassen sind. Die Besucher treten die Serenissima mit all ihren Inseln  zu Bröseln. Daneben machen Tafeln betroffen, die mit roten Punkten zeigen, wie viele Gebäude und Geschäfte derzeit an mehr als 60 Tagen im Jahr wegen Hochwasser nicht betreten werden können und um wie erschreckend viele es 2050 mehr sein würden, wenn mit der Erderwärmung durch CO2 der Meeresspiegel im derzeitigen Tempo weiter steigt.

Drehkreuze zur Rückkehr der Massen

Die Geschäftsleute, die in der Pandemie 90 Prozent ihrer Umsätze verloren, und ihre Mitarbeiter warten wie die Hafenarbeiter auf die Kreuzfahrer. Zeitungsspekulationen, das Infrastruktur- und Nachhaltigkeitsministerium könnte schon ab 5. Juli die Umleitung der Kreuzfahrtschiffe in den Hafen Marghera verfügen, lösen gerade heftige Diskussionen aus.  Derzeit sehen die Lösungsvorschläge nach alten Mustern aus: Die Aufstellung von  "tornelli" ist wieder im Gespräch - so tritt Venedig mit den Touristen im Drehkreuz auf der Stelle.

Rote Liste bedrohter Städte

Die UNESCO hat unterdessen in einem am Montag veröffentlichten Bericht Venedigs Zukunft als gefährdet bezeichnet, wenn weiterhin Kreuzfahrtschiffe in die Lagune einfahren. Auf ihrer Session im Juli will die UNESCO entscheiden, ob  Venedig auf die Liste gefährdeter Städte gesetzt werden müsse. Eine Stadt unter Artenschutz, das wäre auch für SUMus ein Modell. Helene Molinari: "Venedig wäre für die Welt eine ideale Stadt der Avantgarde für eine neue Form des Miteinanders von Umwelt und Arbeit. Wir müssen von entweder-oder zu sowohl als auch kommen,  gleichermaßen mit Respekt vor dem Humanen und der Natur."