Bei strahlendem Wetter über dem Lago Maggiore zeigt sich Stresa am Westufer zu Wochenmitte in einem eigenartigen Licht. Von Touristen ist kaum eine Spur zu sehen, die Luxushotels stehen leer. Der Lärm der Hubschrauber, die die Trümmerreste der Gondel bergen, gemischt mit dem Klang der Kirchenglocken macht das noch Unwirkliche unwirklicher. In den wiedergeöffneten Kaffeehäusern gibt es nur ein Thema: das Seilbahnunglück.
Zu erfahren ist, dass die Betreiberfirma einen erdenklich schlechten Ruf habe. Bereits der Vater von Luigino Nerini, der nicht nur für den Seilbahnbetrieb, sondern auch für den lokalen Autobus-Transport verantwortlich war, stand im Ruf, alte, nicht überholte Autobusse eingesetzt zu haben – um bei den Erhaltungskosten zu sparen.
Seilbahn-Gäste hätten seit Jahren auf ein gewisses Risiko hingewiesen, meint der Barbesitzer. „Es ist nicht tragbar, zu sterben, wenn man mit seiner Familie einen Sonntagsausflug unternimmt oder über eine Brücke fährt“, erklärte Corrado Guzzetti, Schwager des beim Seilbahnunglück ums Leben gekommenen Vittorio Ziccone. Guzzetti gab in einem TV-Interview nicht nur den Betreibergesellschaften, sondern auch den Politikern die Schuld. Denn nur vier Jahre nach dem Brückenunglück von Genua trauert Italien schon wieder um Tote bei einem Infrastruktur-Unglück. Am Wochenende kamen am Lago Maggiore 14 Menschen ums Leben, weil die Notbremse der Seilbahn auf den Mottarone, den Hausberg von Stresa, versagte.
Das war kein Zufall. Mittwochfrüh nahmen die Ermittler Seilbahninhaber Nerini sowie einen Manager und einen Ingenieur der Betreibergesellschaft Ferrovie del Mottarone fest. „Wären die Notbremsen von den Verantwortlichen nicht außer Betrieb gesetzt worden, wäre die Kabine automatisch blockiert worden“, sagte die mit der Untersuchung betraute Staatsanwältin Olimpia Bossi. Sie ermittelt wegen Totschlags und fahrlässiger Körperverletzung. Darauf steht eine Haftstrafe von mindestens 14 Jahren. Ein kleiner Lichtblick in diesem tristen Szenario ist, dass der einzige Überlebende, der israelischstämmige fünfjährige Eitan, außer Lebensgefahr und aus dem Koma erwacht ist. Das gab der Chefarzt des Turiner Krankenhauses, in dem das Kind drei Tage lang mit dem Tod kämpfte, am Mittwoch bekannt.
Die Seilbahn hatte erst am 24. April, nach 14-monatigem Stillstand, wieder den Betrieb aufgenommen. Schon zu diesem Zeitpunkt waren den Verantwortlichen Störungen im Notbremsensystem klar. Doch Profitstreben scheint ihnen wichtiger gewesen zu sein als die Sicherheit ihrer Fahrgäste. Die Chefetage soll die Maßnahme, die Notbremsen auszuschalten und fragwürdige Metallklammern einzusetzen, einheitlich genehmigt haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, inwieweit auch das übrige Personal von der fatalen Entscheidung wusste.
Das alles erinnert auf tragische Weise an den Brückeneinsturz von Genua, wo der Betreibergesellschaft Atlantia ebenfalls die von den defekten Brückenpfeilern ausgehende Gefahr bewusst war. Doch vier Jahre nach der Katastrophe, die 40 Todesopfer forderte, wurde den Verantwortlichen noch immer nicht der Prozess gemacht.
Viele Italiener fragen sich nun, inwieweit den weitgehend veralteten Infrastrukturen in ihrem Land zu trauen ist. Brückeneinstürze und Autobahnschäden haben in den letzten Monaten rasant zugenommen. Die Ferrovie dello Stato, die Staatsbahnen, haben zwar kürzlich Millionen Euro für die Erneuerung ihres Bahnparks investiert. Und auch private Gesellschaften, etwa die Ferrovie dello Nord, haben nachgezogen. Aber nicht nur mangelnde finanzielle Mittel sind für die Nachlässigkeit bei Wartungen verantwortlich. „Erhaltungsarbeiten haben hier keine Priorität“, heißt es auch beim Fahrzeug-Herstellerverband Anfia. Und dies, obwohl das Durchschnittsalter der in Italien zirkulierenden Fahrzeuge bei knapp 13 Jahren liegt.
Durch das Unglück verschärft sich die jahrelange Diskussion über den Besitz der Seilbahn des Monte Mottarone. Die 1970 errichtete Gondelbahn wurde laut dem Regionalgesetz 15 aus dem Jahr 1997 von der Region Piemont der Gemeinde Stresa übertragen und wird privat betrieben. Allerdings wurde der Übergang von der Region zur Gemeinde nicht im Grundbuch eingetragen. Daher sei die Region weiter verantwortlich, meint der Vizebürgermeister von Stresa, Alessandro Bertolino. Tatsache ist, dass die Region mithilfe der Gemeinde in den letzten Jahren 1,75 Millionen Euro in die Modernisierung der Seilbahn investiert habe.
Thesy Kness-Bastaroli aus Stresa