Der Nationalsozialismus hat, neben den vielen Millionen von Kriegsopfern, auch Millionen von Menschenleben jenseits der Kriegshandlungen auf dem Gewissen. Das waren Personen, die entweder wegen ihrer Religion oder aber ihrer Abstammung vorerst ausgegrenzt und schließlich vernichtet wurden oder die sich aus politischer, moralischer, religiöser oder humanitärer Grundhaltung dem Regime verweigerten. War man Teil einer Gemeinschaft, deren Werte und Normen den Ansichten der Nationalsozialisten grundsätzlich widersprachen, und hatte man zudem den Mut, vor den physischen und psychischen Bedrohungen der Machthaber nicht einzuknicken, obwohl man sich der tödlichen Konsequenz durchaus bewusst sein konnte, so halfen manchmal die Überzeugung und der Glaube, sich dennoch zu widersetzen, manchmal auch mit gewaltsamen Mitteln. Es ist kein Zufall, dass sich unter den Opfern aus dem Widerstand überproportional einerseits Kommunistinnen und Kommunisten, andererseits Priester und Ordensleute befanden. Man schritt im Glauben, für die richtige Sache zu sterben, zum Galgen.
Aber es gab auch andere Wege zur Gegnerschaft mit dem Nationalsozialismus. Es gab durchaus Menschen, die zuerst den Schalmeienklängen der neuen Herren folgten, dann aber, oft in einsamen Entscheidungen, die fatalen Folgen begriffen und daher den Entschluss fassten, sich nicht nur zu verweigern, sondern aktiv zu widersetzen. Eine der Persönlichkeiten, die diesen Weg einschlugen, war Sophie Scholl. Sie war eine aus einer großen Schar von Frauen und Männern, die ihrem Gewissen folgten und dafür mit dem Leben bezahlten. Aber ihr Werdegang und ihre Form des Protests waren so herausragend, dass sie zur Symbolfigur werden konnte, auf die sich bis heute, oft mit verqueren Argumenten, viele junge Menschen beziehen.
Am 9. Mai jährt sich der Geburtstag von Sophie Scholl zum 100. Mal. Weniger als 22 Lebensjahre waren ihr vergönnt, denn am 22. Februar 1943 wurde sie, gemeinsam mit ihrem Bruder Hans Scholl und dem Tiroler Studienkollegen Christoph Probst, hingerichtet. Die Guillotine im Gefängnis von München-Stadelheim trennte, wenige Stunden nachdem Roland Freisler, der bösartigste aller Nazi-Richter, das Urteil gesprochen hatte, die Köpfe der drei jungen Menschen von ihren Körpern. Probst hatte im Semester vor seiner Verurteilung in Innsbruck Medizin studiert. Erst vor zwei Jahren hoben die Innsbrucker Universitäten die Exmatrikulation, die mit dem Todesurteil verbunden war, auf.
Sophie wuchs in einer großen Familie auf, mit vier Geschwistern, von denen sie ihrem um knapp drei Jahre älteren Bruder Hans am nächsten stand. Sie war, wie auch Hans, ein Kind, das, aus einem protestantisch-bürgerlichen Milieu kommend, den Versprechungen des Nationalsozialismus vorerst nicht widerstehen konnte. Sie trat 1934 dem Bund Deutscher Mädel (BDM) bei und war dort aktiv. Schon bald war sie Scharführerin und somit Teil jener Institutionen, von denen sie im Februar 1943 in ihrem letzten Flugblatt schreiben sollte, dass diese „uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht“ haben sollten. Beim Tanzen verliebte sich die junge Sophie in Fritz Hartnagel, der damals eine Offiziersausbildung durchlief, und verbrachte mit ihm eine glückliche Zeit.
Der Widerstand war also nicht vorgeprägt, kam nicht aus einem gefestigten antifaschistischen Umfeld, sie musste sich ihre ablehnende Haltung zum Nationalsozialismus erst langsam selbst erarbeiten.
Im März 1940 legte Sophie Scholl die Reifeprüfung ab, absolvierte ein evangelisches Kindergartenseminar und arbeitete bis zu ihrem Studienbeginn im März 1942 beim Reichsarbeitsdienst. In ihrer freien Zeit las sie Schriften des Kirchenvaters Augustinus, dessen „Confessiones“ sie in ihrer religiösen Weiterentwicklung stark beeinflussten. Als sie im Mai 1942 an der Universität in München ihr Studium der Biologie und Philosophie begann, war sie aus zumindest zwei Wurzeln in ihrer Gegnerschaft zum damals herrschenden System gefestigt: der Religion und dem Glauben daran, dass ein „Kulturvolk“ sich der Barbarei widersetzen müsse.
Ihr Bruder Hans, in Widerstandskreisen schon aktiv, wollte Sophie schützen und versuchte, sie davon abzuhalten, sich dem studentischen Widerstand anzuschließen. Sie setzte sich aber durch und wurde zu einem Mitglied der Weißen Rose, einer Gruppe, die Flugschriften verfasste und sie in Universitäten ausstreute, in Telefonzellen oder an anderen öffentlichen Orten hinterlegte. Als „Arbeiter des Geistes“, wie man sich selbst bezeichnete, formulierte man mit breitem humanistisch-aufklärerischen Pathos: „Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? ... Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgestoßene Volk sein?“ Aber auch die soziale Grundhaltung war deutlich: „Die Arbeiterschaft muss durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden … Jedes Volk, jeder Einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt!“
Das war ein umfassendes Gegenmodell zum Nationalsozialismus: Religiös fundiert, sozial, humanistisch, international solidarisch und kulturellen Traditionen verpflichtet, so sollte das andere Deutschland aussehen. Die Nazis vermuteten ein breites Widerstandsnetzwerk hinter der Weißen Rose, es war allerdings nur eine Handvoll überzeugter junger Studierender, die sich gegen den Unrechtsstaat auflehnten. Und es war auch jugendliche Unvorsichtigkeit, die Sophie und Hans Scholl gemeinsam mit Christoph Probst dazu verleitete, am 18. Februar 1943 viele Hundert Exemplare ihres Flugblattes Nummer VI von der Brüstung in das Stiegenhaus der Münchner Universität zu werfen. Ein Saaldiener ertappte sie, der Rektor verhörte sie und übergab sie den Behörden. Nur vier Tage später wurden die drei enthauptet.
Die Weiße Rose, darunter vor allem das junge Mädchen, wurde zum Sinnbild des selbst erlernten aufrechten Ganges in einer Zeit des Kriechens und Duckens. Sophie Scholl ist ein Beispiel für das Erkennen von Unrecht und für die Bereitschaft, viel, ja alles im Kampf gegen die Unmenschlichkeit zu riskieren.
Wenn sich heute aber auf Demonstrationen der Coronaleugner junge Frauen als Sophie Scholl (oder gar Anne Frank) bezeichnen, dann verkehrt das die Werte jener Opfer des Nationalsozialismus gerade in ihr Gegenteil. Es war Sophie Scholl bewusst, dass es galt, Wissenschaft und Kultur hochzuhalten, als Mittel gegen nationale Verengung, Ausgrenzung und Inhumanität. Sich heute damit zu vergleichen, wenn man gegen eine Impfung oder gegen das Testen auftritt, ist eine Vermessenheit, die wohl nur auf eine verblüffende Ignoranz gegründet sein kann.
Helmut Konrad