1. Gewaltverbrechen gegen Frauen sind in Europa weit verbreitet - was steckt nun hinter dem landesweiten Aufschrei in Großbritannien?
ANTWORT: Auslöser für Proteste und Mahnwachen ist der gewaltsame Tod der 33-jährigen Sarah Everard, die am Abend des 3. März spurlos in Südlondon verschwunden war. Ihre Leiche wurde später in einem Waldstück in der Grafschaft Kent entdeckt. Unter Verdacht, sie getötet zu haben, steht ein 48-jähriger Polizist - der Mann sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft. In weiterer Folge berichten nun immer mehr Britinnen von Übergriffen, die sie auf der Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln erdulden mussten. Für viele ist, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen, Angst ein ständiger Begleiter.

2. Was weiß man noch über den Tatverdächtigen?
ANTWORT: Der zweifache Vater soll sich drei Tage vor dem Verschwinden von Everard in einem Fast-Food-Restaurant in Südlondon entblößt haben. Der 48-Jährige, der sich seit Dienstagabend in Gewahrsam befindet, gehört zu einer Einheit zum Schutz von Parlamentariern und Diplomaten und gilt als Elite-Polizist.

3. Was passierte nun in London?
ANTWORT: Bei einem Musikpavillon im Park Clapham Common im Süden von London wurde am Samstag eine Mahnwache für die auf ihrem Nachhauseweg entführte und getötete Frau abgehalten - zumindest wurde es versucht. Dabei ging die Polizei mit offenbar teils exzessiver Gewalt gegen Anwesende vor - mehrere Teilnehmerinnen wurden vom Ort des Gedenkens weggezerrt. Ein offizieller Aufruf zu der Mahnwache war von den Organisatorinnen von "Reclaim These Streets" ("Holt euch diese Straßen zurück") zwar zurückgenommen worden, weil Gespräche mit der Polizei über eine pandemiekonforme Durchführung gescheitert waren. Vielen kamen aber trotzdem. In weiterer Folge demonstrierten am Sonntag hunderte Menschen gegen den Polizeieinsatz. Sie versammelten sich vor dem Hauptquartier der Polizei, New Scotland Yard, und zogen später vor das Parlament. 

Nach der aufgelösten Mahnwache zogen Menschen vor das Hauptquartier der Polizei, New Scotland Yard, und später zum "Parliament Square"
Nach der aufgelösten Mahnwache zogen Menschen vor das Hauptquartier der Polizei, New Scotland Yard, und später zum "Parliament Square" © (c) AFP (DANIEL LEAL-OLIVAS)

4. Was sagt die Polizei zu ihrer Verteidigung?
ANTWORT: Begründet wurde das Vorgehen im Park Clapham Common seitens der Behörden mit Verstößen gegen die Corona-Regeln - vor allem Abstandsregeln wurden von den Anwesenden nicht eingehalten. "Die Beamten vor Ort waren mit einer sehr schwierigen Entscheidung konfrontiert", rechtfertigte eine Scotland-Yard-Sprecherin den Einsatz später, bei dem es vier Festnahmen gegeben hatte. Eine Frau war auf den Boden gedrückt worden.

Polizei muss gegen Verstöße gegen die Corona-Regeln vorgehen, sagt sie
Polizei muss gegen Verstöße gegen die Corona-Regeln vorgehen, sagt sie © (c) AFP (DANIEL LEAL-OLIVAS)

5. Wie kommentiert die britische Politik das Vorgehen?
ANTWORT: Inzwischen schaltete sich Premierminister Boris Johnson ein: "Wie jeder, der sie gesehen hat, war ich von den Bildern vom Clapham Common tief betroffen", betonte er. Trotzdem stellte er sich laut britischen Medienberichten grundsätzlich hinter die unter massive Kritik geratene Londoner Polizeichefin Cressida Dick. Johnson trifft mit einer einer Arbeitsgruppe zusammen, "um weitere Schritte zum Schutz von Frauen und Mädchen zu erörtern und sicherzustellen, dass unsere Straßen sicher sind", hieß es. Londons Bürgermeister Sadiq Khan bezeichnete die Szenen des Polizeieinsatzes als "inakzeptabel". Die Polizei habe zwar die Verantwortung, die Corona-Maßnahmen durchzusetzen, aber von den Bildern werde klar, dass die Reaktion der Beamten "weder angemessen noch verhältnismäßig" war, so der Labour-Politiker. 

Unverhohlene Kritik an der Londoner Polizeichefin Cressida Dick
Unverhohlene Kritik an der Londoner Polizeichefin Cressida Dick © (c) AP (Yui Mok)

6. Wird es Folgen für das Vorgehen der Polizei geben?
ANTWORT: Die konservative Innenministerin Priti Patel bezeichnete die Aufnahmen als teilweise verstörend. Sie habe einen "vollständigen Bericht" von Scotland Yard zu den Ereignissen angefordert. Die Szenen des Polizeieinsatzes seien eine "Schande für die Metropolitan Police", bilanzierte der Fraktionsvorsitzende der Liberaldemokraten im britischen Parlament, Ed Davey, auf Twitter. Er forderte die Londoner Polizeichefin Dick zum Rücktritt auf - was diese strikt ablehnt. Anna Birley, eine der Organisatorinnen der Mahnwache in London, lehnt Dicks Rücktritt indes ab: Sie und ihre Aktiongruppe "Reclaim These Streets" wollen vielmehr ein Treffen mit der Polizeichefin.



7. Wie viele Frauen werden in Großbritannien Opfer von Belästigungen und  Gewaltverbrechen?
ANTWORT: Beinahe jede junge Frau in Großbritannien ist eigenen Angaben zufolge sexuell belästigt worden, wie die britische Vertretung der UN-Organisation für Geschlechtergerechtigkeit (UN Women UK) mitteilte. Nur vier Prozent der Betroffenen meldeten die Vorfälle – 45 Prozent glauben nicht, dass sich dadurch etwas geändert hätte. Schätzungen zufolge werden in einem Jahr 85.000 Frauen in Großbritannien vergewaltigt. Zwischen 2009 und 2018 wurden in Grpßbritannien insgesamt 1428 Frauen ermordet. Laut der Organisation "Nia Ending Violence" kamen in den ersten beiden Monaten 2021 bereits 25 gewaltsam ums Leben, 2020 waren es 119.

8. Wie ist die Situation in Österreich?
ANTWORT: Laut EU-Grundrechteagentur (FRA) ist der Anteil der Frauen, die in Österreich körperliche Gewalt erlitten haben, eine der höchsten Raten in der EU. Sechs Prozent Österreicherinnen wurden laut jüngstem FRA-Bericht Opfer körperlicher Gewalt. Bei jungen Frauen zwischen 16 und 29 Jahren sind es 20 Prozent. 2020 gab es 24 Femizide, im laufenden Jahr sind es bereits vier gewesen. 2019 wurden laut polizeilicher Kriminalstatistik 39 Frauen ermordet – im Jahr 2018 wurden sogar 41 Morde an Frauen verübt. Meist werden die Taten von (Ex-)Partnern oder Familienmitgliedern gesetzt.