Herr Aschauer, wie schlimm ist es um die Artenvielfalt bestellt? Wie viele Spezies verschwanden während der letzten Jahre in Österreich, welche Arten sind besonders betroffen - und für welche ist "der Zug schon abgefahren"?
ARNO ASCHAUER: Unser Living Planet Index hat gezeigt, dass die untersuchten Wirbeltier-Bestände (Säugetiere, Vögel, Amphibien, Reptilien und Fische) seit 1986 um durchschnittlich 70 Prozent zurückgegangen sind. Fast ein Drittel der Tier- und Pflanzenarten steht auf der "Roten Liste" der gefährdeten Arten. Im EU-Vergleich belegt Österreich im EU-Umweltbericht den vorletzten Platz, weil 83 Prozent der bewerteten Arten in keinem guten Zustand sind. Bei den Vögeln ist zum Beispiel die Blauracke so gut wie ausgestorben, weil sie von großen Insekten und intakten Wiesen abhängig ist. Die wurden aber nicht nur verbaut, sondern auch großflächig in Mais-Äcker umgewandelt. Die Summen-Wirkung ist verheerend. Wir verbauen, übernutzen und verschmutzen die Natur als gäbe es kein Morgen. Über 80 Prozent aller EU-weit geschützten Lebensräume sind in keinem günstigen Zustand sind, das wirkt sich direkt auf alle Tiere und Pflanzen aus.
Wie ist die Lage für Österreichs Fischbestände in Flüsse und Seen, wie in der Vogelwelt, wie bei den Insekten?
Mit einem Wort: Katastrophal. Von den 73 heimischen Fischarten stehen 60 Prozent auf der Roten Liste bedrohter Arten – als gefährdet, stark gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht. Sieben Arten sind bereits ausgestorben – wie der Aal und mehrere große Wanderfisch-Arten. Aktuell ist der Huchen stark bedroht, vor allem weil die Wasserkraft in seine letzten Rückzugsgebiete vordringt. Bei Insekten gibt es für Österreich mehrere negative Trends, aber noch keine ausreichende Datenbasis. Sowohl Studien aus Deutschland, als auch weltweite Analysen zeigen einen dramatischen Rückgang sowohl der Arten als auch der Menge an Insekten. Einerseits wird ihnen durch Flächenverbrauch und Bodenversiegelung der Lebensraum genommen, andererseits werden sie durch Insektizide vernichtet. Gibt es weniger Insekten, gibt es auch weniger Vögel, Fledermäuse oder Fische und weniger Ertrag bei Obst und Gemüse.
Welche Säugetiere sind am stärksten bedroht?
Besonders bedroht ist derzeit der Luchs. Er leidet nicht nur unter der Zerschneidung und Verbauung seiner Lebensräume und Wanderrouten, sondern wird auch zusätzlich Opfer illegaler Abschüsse. Aber auch alle Fledermaus-Arten stehen auf der Roten Liste, weil sie massiv vom Insektensterben und der Zerstörung ihrer Lebensräume (etwa naturnahe Wälder) betroffen sind.
Sind Versiegelung, Verbauung und Regulierung die Hauptgründe - oder ist es mittlerweile auch der Klimawandel?
Die Hauptgründe sind die Zerstörung von Lebensräumen und die intensive Land-, und Forstwirtschaft und Wasserwirtschaft - aber auch die Klimakrise wirkt sich immer negativer aus. Bei Fischen wie der Äsche begünstigen höhere Wassertemperaturen, die durch die Übernutzung und zusätzlich durch die Erderhitzung auftreten, die Ausbreitung von Krankheiten. Sie verursachen Sauerstoffmangel und minimieren den Bruterfolg. Dazu kommt der viel zu hohe Eintrag von Schad- und Nährstoffen, Hormonen und Pestiziden.
Der World Wide Fund For Nature fordert eine "Biodiversitäts-Milliarde": Was soll mit diesem Geld unternommen werden?
Wir könnten damit neue Schutzgebiete einrichten, nationale Artenschutz-Programme finanzieren und zerstörte Lebensräume großflächig renaturieren - von der Entfernung überflüssiger Querbauwerke in Flüssen bis zur Rettung von Mooren und Wäldern. Was die Politik oft vergisst: Eine intakte Natur ist nicht nur für den Artenschutz, sondern auch für das Weltklima und unsere eigenen Lebensgrundlagen unverzichtbar. Das Artensterben, die Corona-Krise und die Klimakrise sind Symptome der gleichen Krankheit. Daher hilft jeder Euro für den Naturschutz auch unserer eigenen Gesundheit.
Haben Sie angesichts der grünen Regierungspartei (mehr) Hoffnung, dass die Warnsignale nicht mehr weiter umgefahren werden, was Biodiversität und Artenschutz anbelangt?
Alle sind gefordert. Wir nehmen die gesamte Politik in die Pflicht, zumal ein naturverträgliches Leben nur mit einer gesamtgesellschaftlichen Transformation möglich ist.
Wie groß ist Ihre Hoffnung auf Umsetzung eines "Bodenschutz-Vertrags", wie Sie ihn fordern?
Im Schatten der Coronakrise ist der Bodenschutz sträflich vernachlässigt worden, aber immer mehr Menschen spüren die Folgen der Verbauung in ihrem persönlichen Umfeld. Daher muss die Politik endlich konkrete Beschlüsse liefern. Gerade die Coronakrise sollte ein Weckruf sein, intakte Grünräume zu schützen, anstatt rücksichtslos zu verbauen.
Ist die höhere Besteuerung von SUVs und dergleichen ein Hebel im gesamten Problemfeld, der etwas bringen könnte?
Das ist nur eine von vielen notwendigen Maßnahmen, aber es sollte sich auch das gesamte System dahinter ändern. Sowohl das Steuersystem als auch die Raumordnung müssen ökologischer werden. Naturschutz muss zum öffentlichen Interesse werden, nicht die ständige Verbauung für noch mehr Profit. Jeder einzelne kann und muss mehr tun, aber die Hauptverantwortung liegt bei der Politik. Wir müssen die zerstörerischen Strukturen ändern, um die Wende zu schaffen. Ansonsten wird unser ökologischer Fußabdruck immer größer: Derzeit bräuchte es umgerechnet rund vier Erden, wenn alle Menschen so leben würden wie in Österreich.